Vermischtes

„Sexuelle Gesundheit müsste an vielen Stellen stärker mit bedacht werden“

  • Mittwoch, 24. Juli 2024

Berlin – Sie sprechen über Schülerfragen, über HPV, das fetale Alkoholsyndrom, sexuell übertragbare Infektio­nen und viele andere Themen: Mehr als 100 Ärztinnen und Ärzte bringen für den Verein Ärztliche Gesellschaft für Gesundheitsförderung (ÄGGF) Informationen über sexuelle Gesundheit in deutsche Klassenzimmer.

Die für Schulen kostenfreien Kurse werden etwa durch Projektförderungen und Spenden ermöglicht. Um die Vorsorge beim Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit zu stärken, dringt der Verein mit einer Online-Petition auf eine Gesetzesänderung. 20 weitere Organisationen aus dem Gesundheitswesen stehen ebenfalls dahinter.

Heike Kramer / ÄGGF
Heike Kramer / Fotografschaft Erlangen

5 Fragen an die ÄGGF-Vorsitzende Heike Kramer

In Ihrer Online-Petition fordern Sie, sexuelle und reproduktive Gesundheit neben Ernährung, Bewegung, Stressregulation und Sucht in der geplanten Neufassung des Präventionsgesetzes zu berücksichtigen. Was versprechen Sie sich davon?
Wenn das Thema explizit im Gesetz verankert wäre, würde es hierzulande einen anderen Stellenwert bekommen. Sexuelle Gesundheit müsste an vielen Stellen stärker mit bedacht werden, beim Gesetzgeber, in Praxen oder auch gemeinnützigen Vereinen, die zu Gesundheitsbildung arbeiten. Krankenkassen zum Beispiel könnten entsprechende Projekte einfacher fördern, weil es im Handlungsfeld des Gesetzes enthalten ist.

Bisher haben wir das Gefühl, dass sich die Politik in Deutschland noch nicht so offen an das Thema Sexualität herantraut, auch weil es schwerfällt, darüber zu sprechen.

Wir merken, dass das teils sogar für Kolleginnen und Kollegen aus der Gynäkologie und Urologie gilt. Das Thema kommt in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung viel zu kurz. Wir haben Kolleginnen, die eine Weiterbildung in Sexualmedizin absolviert haben – sie berichten, dass sie erst jetzt anders mit Patientinnen und Patienten ins Gespräch kommen.

Von der Nennung im Gesetz erhoffe ich mir, dass das Tabu fällt. Wir möchten erreichen, dass Menschen offen über sexuelle und reproduktive Gesundheit kommunizieren und bei Bedarf zielgerichtete Unterstützung erhalten. Bis Ende August wollen wir 50.000 Unterschriften sammeln, damit sich der Bundestag mit der Petition befasst.

Sie haben mehr als 30 Jahre Erfahrung mit Aufklärungsstunden an Schulen. Wissen Kinder und Jugendliche durch den Zugang zu Smartphones und Tablets besser Bescheid als früher?
Leider haben wir nicht das Gefühl. Die Kinder und Jugendlichen holen sich zwar viele Informationen im Internet und glauben, sehr viel zu wissen. Das sind aber oft nur Puzzlesteinchen, die sie nicht zu einem sinnvollen Ganzen zusammensetzen können. Wir haben nicht den Eindruck, dass sie sicherer handeln können.

Aber es ist schwer zu pauschalieren: Generell erleben wir ganz unabhängig vom Schultyp Kinder und Jugendliche, die toll aufgeklärt sind – aber leider auch viele, die kaum oder gar nicht informiert sind. Da gibt es immer noch viel zu tun.

Der persönliche Kontakt ist enorm wichtig. Das Internet sieht schließlich die fragenden Gesichter nicht, wenn etwas unverständlich ist. Ein Beispiel: Vielen Schülerinnen und Schülern ist die Bedeutung des Wortes „vorbeugen“ im Sinne von „etwas unternehmen, um etwas Unerwünschtes zu verhindern“ nicht mehr bekannt.

Wenn man schreibt oder sagt „Da solltest du unbedingt vorbeugen“ sind sie gedanklich dabei, eine Verbeugung zu machen. Solche Missverständnisse bekommt man nur im persönlichen Austausch mit und gerade im Bereich der Sexualität existieren viele unbekannte oder unverstandene Begriffe.

Hinzu kommt, dass im Internet viele Inhalte zu finden sind, die womöglich unterhaltsam, aber nicht korrekt sind. Manche Influencerinnen zum Beispiel schüren große Hormonangst. Früher wurden wir von Mädchen gefragt, ab welchem Alter man endlich die Pille nehmen darf. Heute steht viel stärker die Frage nach Alternativen zur Pille im Mittelpunkt, weil diese als gefährlich wahrgenommen wird.

Wie früh sollte Sexualaufklärung beginnen?
Eigentlich am besten von Anfang an – mit der Sprache. Zum Beispiel damit, etwa als Eltern wirklich alle Körperteile des Babys zu benennen, nicht nur Arme, Beine, Augen und Nase.

Es wäre schon ein Riesenschritt getan, wenn es dadurch einen selbstverständlichen Umgang mit Begriffen gäbe, die lange schambehaftet waren. Dann steht man auch nicht vor der Herausforderung, Fünf- oder Sechsjährigen die neuen Worte Penis und Vulva beizubringen.

Mit einem einzigen Gespräch ist es jedenfalls nicht getan. An Schulen braucht es eigentlich jedes Jahr Angebote, und es ist wichtig, dass wir Ärztinnen und Ärzte als Externe dorthin kommen.

Denn Umfragen unter Kindern und Jugendlichen zeigen, dass nur ein Teil bei den eigenen Eltern Rat sucht und sie sich schämen, Lehrkräfte zu fragen. Insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund sind andere vertrauliche Anlaufstellen wichtig.

Eltern sind bei dem Thema oft verunsichert. Vielen ist nicht klar, dass Kinder schon zwischen der vierten und sechsten Klasse mit Pornos in Kontakt kommen. Gerade angesichts der Flut von Bildern im Internet ist es aber wichtig, dass schon früh ein sicheres, liebevolles Wissen aufgebaut ist. Dass sie zum Beispiel verstehen, dass Sexualität viel mit Beziehung und Zuneigung zu tun hat.

Aufklärung sollte auf die Fragen der Kinder eingehen und an ihre Entwicklung angepasst sein. Lehrkräfte fühlen sich in diesen Themen teils nicht gut genug ausgebildet. Außerdem befinden sie sich oft in einem Rollenkonflikt: Blocken sie Schülerfragen ab, gelten sie als verklemmt. Aber wenn sie darauf detailliert eingehen, riskieren sie Beschwerden der Eltern.

Bei welchen Themen sehen Sie die größten Wissenslücken?
Das fängt schon bei der Anatomie an. Die Prostata zum Beispiel ist für viele eine Erkrankung, die man als älterer Mensch kriegt. Vielen Mädchen ist die Klitoris unbekannt. Ähnlich wie Lage und Aussehen des Hymens ­– darum ranken sich viele Mythen und Fehlinformationen, wie zum Beispiel, dass es beim Sport reißen könnte. Vom Wissen zur Physiologie des weiblichen Zyklus ganz zu schweigen.

Wo Zykluswissen fehlt, wird es auch schwierig mit sicherer Verhütung. Bei der Pille zum Beispiel gibt es die Vorstellung, sie täusche eine Schwangerschaft vor, daher mache sie dick. Wir versuchen stattdessen zu erklären, dass man sich die Pille als Schlafmittel für die Eierstöcke vorstellen kann. Das ist verständlicher. Und es wird klarer, dass man sie regelmäßig nehmen muss.

Große Defizite bestehen auch beim Wissen rund um Notfallkontrazeption. Die „Pille danach“, die nur den Eisprung verschiebt, wird oft für eine Abtreibungspille gehalten. Das Chlamydienscreening ist vielen gänzlich unbekannt. Die HPV-Impfung ebenso, entsprechend katastrophal sind die Impfquoten in Deutschland.

Mit mangelndem Körperwissen geht wenig Akzeptanz für den eigenen Körper einher. Fragen danach, was noch „normal“ ist, hören wir sehr, sehr häufig.

Seit dem Wegfall der Rezeptpflicht 2015 hat sich die Zahl abgegebener Packungen von Notfallkontrazeptiva in Apotheken deutlich erhöht. Aus der Industrie kommen dennoch Forderungen, das Werbeverbot für die „Pille danach“ solle gestrichen werden. Wie sehen Sie das?
Wir erleben bei den Schülerinnen und Schülern große Wissensdefizite. Viele wissen zum Beispiel noch nicht einmal, dass es die „Pille danach“ rezeptfrei gibt. Neulich sagte ein Schüler, dafür brauche man doch eine Genehmigung des Arztes.

Vor dem Hintergrund sehe ich in einem Wegfall des Werbeverbots eine Chance für bessere Aufklärung, die mehr Menschen erreicht. Aber nach meiner Vorstellung müsste diese Werbung dann immer aus sachlichen, produktunabhängigen Informationen bestehen.

Produktnamen zum Beispiel sollten nicht enthalten sein. Ähnlich wurde das auch schon bei manchen Impfungen gehandhabt.

Generell wird hierzulande in den Medien massiv für rezeptfreie Medikamente geworben, auch wenn diese Nebenwirkungen haben und die dargestellten Effekte zum Teil zweifelhaft scheinen – aber bei der „Pille danach“ geht es darum, die Zahl der ungeplanten Schwangerschaften und konsekutiv der Schwangerschaftskonflikte zu verringern.

Es wäre toll, wenn das mehr jungen Frauen und Paaren erspart werden könnte und in der Folge auch die Abtreibungszahlen wieder sinken würden.

ggr

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