Politik

Sexuelle Gewalt an Heranwachsenden: Erwachsene sollen Verantwortung übernehmen

  • Montag, 13. November 2023
Lisa Paus (Bündnis 90/Grüne, l), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, und Kerstin Claus, unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, stellen die Kampagne „Schieb deine Verantwortung nicht weg!“ der bundesweiten Aktionswoche zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor./picture alliance, Melissa Erichsen
Lisa Paus (Grüne, links), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, und Kerstin Claus, unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, stellen die Kampagne „Schieb deine Verantwortung nicht weg!“ der bundesweiten Aktionswoche zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor./picture alliance, Melissa Erichsen

Berlin – Unter dem Titel „Schieb deine Verantwortung nicht weg!“ startet heute eine Aufklärungskampagne und eine Aktionswoche der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) und des Bundesministeriums für Familie, Soziales, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zum Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Auch Ärzte und Psychotherapeuten können die Kampagne unterstützen.

„Wir appellieren an das Verantwortungsgefühl von Erwachsenen. Denn ein aufgeklärtes, wachsames Umfeld schützt Kinder und Jugendliche viel besser vor Gewalt. Zu viele sehen immer noch weg, oft auch aus Unsicher­heit“, sagte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) bei der Pressekonferenz zum Start der Kampagne in Berlin.

„Viel zu oft gibt es die Vorstellung, dass andere Menschen, Organisationen oder staatliche Stellen zuständig sind, wenn es um den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt geht. Das wollen wir ändern“, betonte die UBSKM, Kerstin Claus.

„Wir appellieren an Erwachsene, die Verantwortung nicht wegzuschieben, sondern bei einem komischen Ge­fühl oder einem Verdacht bei dem Kind nachzufragen, das Thema sexuelle Gewalt aktiv anzusprechen, auch wenn möglicherweise nahe Angehörige involviert sind.“

Denn von sexueller Gewalt sind nach Angaben der UBSKM vor allem Kinder und Jugendliche im eigenen per­sönlichen Umfeld, vor allem in der Familie, betroffen. Eine in Auftrag gegebene Forsa-Umfrage, habe zudem gezeigt, das 85 Prozent der Befragten es für unwahrscheinlich oder ausgeschlossen hielten, dass sexualisierte Gewalt in der eigenen Familie passiert oder passieren könnte.

Nach Ansicht von Claus müssten auch Ärzte und Psychotherapeuten noch sensibler werden in Bezug auf die Wahrnehmung von Kindeswohlgefährdung. „Manchmal steckt hinter zum Beispiel der Depression eines Kindes noch etwas anderes. Hier müssen Ärzte und Psychotherapeuten hellhörig werden“, sagte sie.

In jeder Schulklasse sind nach Erkenntnissen der WHO ein bis zwei Kinder von sexueller Gewalt betroffen, be­richtete die UBSKM. Das Dunkelfeld sei indes sehr hoch. Sie fordert deshalb, ein Zentrum für Prävalenzfor­schung zu etablieren.

In einem ersten Schritt schlägt sie vor, Schülerinnen und Schüler von 9. Schulklassen zum Thema sexuelle Gewalt zu befragten. Diese müssten darauf entsprechend vorbereitet werden und bei Bedarf auch Beratung und Hilfe bekommen.

Auf politischer Ebene fordert die UBSKM eine gesetzliche Verankerung des Amtes. Das gehe mit einer Be­richts­pflicht gegenüber dem Bundestag einher, wofür man auch konkrete Zahlen zur Prävalenz von sexueller Gewalt brauche. Darüber hinaus sei es wichtig, in jedem Bundesland Landesmissbrauchsbeauftragte zu ver­ankern ebenso wie Betroffenenräte.

Angela Marquardt, Mitglied im Betroffenenrat beim Amt der UBSKM, betonte: „Die Kampagne spricht zurecht die Verantwortung aller an, denn sexualisierte Gewalt ist kein individuelles Problem. Das oft fehlende Un­rechtsbewusstsein führt in großen Teilen der Gesellschaft zum Schweigen und wir Betroffene haben das Recht auf eine gesellschaftliche Verantwortungsübernahme.“

Gefragt danach, ob von sexueller Gewalt betroffenen Kinder und Jugendliche mit Therapiebedarf ausreichende Hilfe bekommen, sagte die UBSKM: „Es braucht dringend mehr traumatherapeutisch spezialisierte Therapie­plätze für Betroffene. Ebenso notwendig ist der Ausbau von Traumambulanzen.“

Der Bundesregierung sei die generelle Unterversorgung gerade im Bereich der Kinder- und Jugendlichen­psy­chotherapie bewusst, erklärte Bundesfamilienministerin Paus. Sie wies darauf hin, dass Bundesgesundheits­minis­ter Karl Lauterbach (SPD) Sonderbedarfzulassungen für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten auf den Weg gebracht habe.

Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die die Kampagne „Schieb deine Verantwortung nicht weg!“ unterstützen wollen, können neben Plakaten und einem Infoflyer auch verschie­dene Infohefte kostenfrei über den Webshop zur Auslage im Wartezimmer bestellen.

Die Kampagne ist auf mehrere Jahre angelegt. Auch der Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist ein wichtiger Partner, der die Aktion und die bundesweiten und lokalen Maßnahmen unter­stützt.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung engagiert sich seit Jahren im Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kin­dern und Jugendlichen und ist im Nationalen Rat in der Arbeitsgruppe Forschung und Wissenschaft vertreten.

PB

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