Sexuelle Gewalt an Heranwachsenden: Erwachsene sollen Verantwortung übernehmen

Berlin – Unter dem Titel „Schieb deine Verantwortung nicht weg!“ startet heute eine Aufklärungskampagne und eine Aktionswoche der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) und des Bundesministeriums für Familie, Soziales, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zum Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Auch Ärzte und Psychotherapeuten können die Kampagne unterstützen.
„Wir appellieren an das Verantwortungsgefühl von Erwachsenen. Denn ein aufgeklärtes, wachsames Umfeld schützt Kinder und Jugendliche viel besser vor Gewalt. Zu viele sehen immer noch weg, oft auch aus Unsicherheit“, sagte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) bei der Pressekonferenz zum Start der Kampagne in Berlin.
„Viel zu oft gibt es die Vorstellung, dass andere Menschen, Organisationen oder staatliche Stellen zuständig sind, wenn es um den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt geht. Das wollen wir ändern“, betonte die UBSKM, Kerstin Claus.
„Wir appellieren an Erwachsene, die Verantwortung nicht wegzuschieben, sondern bei einem komischen Gefühl oder einem Verdacht bei dem Kind nachzufragen, das Thema sexuelle Gewalt aktiv anzusprechen, auch wenn möglicherweise nahe Angehörige involviert sind.“
Denn von sexueller Gewalt sind nach Angaben der UBSKM vor allem Kinder und Jugendliche im eigenen persönlichen Umfeld, vor allem in der Familie, betroffen. Eine in Auftrag gegebene Forsa-Umfrage, habe zudem gezeigt, das 85 Prozent der Befragten es für unwahrscheinlich oder ausgeschlossen hielten, dass sexualisierte Gewalt in der eigenen Familie passiert oder passieren könnte.
Nach Ansicht von Claus müssten auch Ärzte und Psychotherapeuten noch sensibler werden in Bezug auf die Wahrnehmung von Kindeswohlgefährdung. „Manchmal steckt hinter zum Beispiel der Depression eines Kindes noch etwas anderes. Hier müssen Ärzte und Psychotherapeuten hellhörig werden“, sagte sie.
In jeder Schulklasse sind nach Erkenntnissen der WHO ein bis zwei Kinder von sexueller Gewalt betroffen, berichtete die UBSKM. Das Dunkelfeld sei indes sehr hoch. Sie fordert deshalb, ein Zentrum für Prävalenzforschung zu etablieren.
In einem ersten Schritt schlägt sie vor, Schülerinnen und Schüler von 9. Schulklassen zum Thema sexuelle Gewalt zu befragten. Diese müssten darauf entsprechend vorbereitet werden und bei Bedarf auch Beratung und Hilfe bekommen.
Auf politischer Ebene fordert die UBSKM eine gesetzliche Verankerung des Amtes. Das gehe mit einer Berichtspflicht gegenüber dem Bundestag einher, wofür man auch konkrete Zahlen zur Prävalenz von sexueller Gewalt brauche. Darüber hinaus sei es wichtig, in jedem Bundesland Landesmissbrauchsbeauftragte zu verankern ebenso wie Betroffenenräte.
Angela Marquardt, Mitglied im Betroffenenrat beim Amt der UBSKM, betonte: „Die Kampagne spricht zurecht die Verantwortung aller an, denn sexualisierte Gewalt ist kein individuelles Problem. Das oft fehlende Unrechtsbewusstsein führt in großen Teilen der Gesellschaft zum Schweigen und wir Betroffene haben das Recht auf eine gesellschaftliche Verantwortungsübernahme.“
Gefragt danach, ob von sexueller Gewalt betroffenen Kinder und Jugendliche mit Therapiebedarf ausreichende Hilfe bekommen, sagte die UBSKM: „Es braucht dringend mehr traumatherapeutisch spezialisierte Therapieplätze für Betroffene. Ebenso notwendig ist der Ausbau von Traumambulanzen.“
Der Bundesregierung sei die generelle Unterversorgung gerade im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie bewusst, erklärte Bundesfamilienministerin Paus. Sie wies darauf hin, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Sonderbedarfzulassungen für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten auf den Weg gebracht habe.
Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die die Kampagne „Schieb deine Verantwortung nicht weg!“ unterstützen wollen, können neben Plakaten und einem Infoflyer auch verschiedene Infohefte kostenfrei über den Webshop zur Auslage im Wartezimmer bestellen.
Die Kampagne ist auf mehrere Jahre angelegt. Auch der Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist ein wichtiger Partner, der die Aktion und die bundesweiten und lokalen Maßnahmen unterstützt.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung engagiert sich seit Jahren im Kampf gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen und ist im Nationalen Rat in der Arbeitsgruppe Forschung und Wissenschaft vertreten.
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