Kinder mit Behinderungen werden zu wenig vor Misshandlungen geschützt

Berlin – Kinder und Jugendliche mit Behinderung oder chronischer Erkrankung weisen ein höheres Risiko für Vernachlässigung, Misshandlung und sexueller Gewalt auf. Gleichzeitig stellen solche Erfahrungen ein zusätzliches Gesundheitsrisiko für diese Kinder dar.
„Dieser doppelte Zusammenhang zeigt, dass behinderte und chronisch kranke Kinder besonders geschützt werden müssen“, erklärte Jörg. M. Fegert, ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie -psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm gestern bei dem Fachtag „Kinderschutz inklusiv(e)“.
In der Realität sei jedoch häufig das Gegenteil der Fall. Zu selten würden spezifische Gefährdungen wahrgenommen und Interventionen gestalteten sich aufgrund geteilter Zuständigkeiten zwischen Gesundheitswesen und Kinder- und Jugendhilfe schwierig.
Kinder und Jugendliche mit Behinderungen haben Fegert zufolge ein 3- bis 7-fach erhöhtes Risiko für Vernachlässigung, Misshandlung und sexuelle Gewalt. In Deutschland leben rund 194.000 Kinder und Jugendliche mit einer anerkannte Schwerbehinderung. In Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe leben rund 21.000 junge Menschen mit Behinderungen und in Einrichtungen der Eingliederungshilfe rund 102.000.
Chronisch kranke Kinder haben Fegert zufolge ein 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko für körperliche Misshandlung. In Deutschland leben 2,2 Millionen Kinder mit chronischen Erkrankungen und 1,9 Millionen Kinder mit speziellem Versorgungsbedarf. Die häufigsten Erkrankungen sind hier obstruktive Bronchitis, Neurodermitis, Heuschnupfen, Skoliose und Asthma.
Ein erhöhtes Risiko für körperliche Misshandlungen haben laut dem Experten Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten wie zum Beispiel Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen. Besonders betroffen seien hier Kinder unter sechs Jahren aus Familien mit geringem Einkommen.
Das höchste Risiko haben ihm zufolge Kinder mit motorischer Entwicklungsverzögerung und nur milder mentaler Entwicklungsverzögerung. Gleichzeitig seien Kinder mit geringgradiger Behinderung möglicherweise stärker von Misshandlung bedroht als Kinder mit schweren Beeinträchtigungen im Alltag. Auch Kinder und Jugendliche mit Einschränkungen der Sinneswahrnehmung haben demnach ein 7,5-fach erhöhtes Risiko für körperliche Misshandlung und sexuelle Gewalt.
Fegert zufolge ist es notwendig, Schutzkonzepte in Einrichtungen der Behindertenhilfe zu entwickeln und hierbei die besonderen Gefährdungen der Kinder in den Blick zu nehmen. „Die Institution muss ein Schutzort und ein Kompetenzort sein, in dem Prävention, Intervention und Aufklärung von Fehlern an der Tagesordnung sind.“ Es müsse dort auch ein Beschwerdestellen geben, um die Kinder zu schützen.
In ein solches Beschwerdemanagement müssten die Kinder und Jugendlichen mit einbezogen werden, ergänzte Kerstin Claus, Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. „Wir brauchen gesetzlich verbindliche Schutzkonzepte mit Mindeststandards“, forderte sie. Hierfür sei externe sektorenübergreifende Expertise notwendig. „Denn oftmals findet ein Pingpong zwischen dem Sozialrecht V und IX statt“, so Claus.
Als Risikofaktoren für in der Familie lebende Kinder nannte der Kinder- und Jugendpsychiater Fegert überforderte Eltern, psychisch kranke oder suchtkranke Eltern und auch den Umstand, wenn eine Stiefmutter oder ein Stiefvater im Haushalt lebt.
Lebensbedrohliche medizinische Vernachlässigungen
Auf das Thema Medizinische Vernachlässigung bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung lenkte Jo Ewert von der Medizinische Kinderschutzhotline den Blick. „Im klinischen Alltag ist die mangelnde Adhärenz in Bezug auf die Einhaltung von Terminen, Therapien und Diagnostik ein häufiges Problem“, sagte der Arzt.
Für betroffene Kinder könnten solche Vernachlässigungen aber lebensbedrohlich sein. Das Fortschreiten der Erkrankung werde entsprechend nicht erkannt, die Erkrankung verschlechtere sich durch mangelnde Therapie.
Eine Statistik der Child Protection Services aus den USA zeige, dass „Medical Neglect“ für fast zehn Prozent der Fälle von Vernachlässigung verantwortlich sei. In Deutschland sei das Problem noch wenig erforscht.
Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe haben Ewert zufolge oftmals wenig medizinisches Wissen. Dies sei herausfordernd für die Kooperation und nehme die Medizin in die Verantwortung gut zu erklären, wenn es um medizinische Vernachlässigung von (schwer) kranken Kindern geht.
Die Medizinische Kinderschutzhotline ist ein vom Bundesfamilienministerium gefördertes, bundesweites, kostenfreies und 24 Stunden erreichbares telefonisches Beratungsangebot (0800/1921000) für Angehörige der Heilberufe, Kinder- und Jugendhilfe und Familiengerichte bei Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung und sexuellem Kindesmissbrauch.
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