Sexueller Kindesmissbrauch: Aufarbeitungskommission sieht Mängel in der Arbeit von Jugendämtern

Berlin – Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat eine Studie zur Arbeit der Jugendämter bei sexuellem Kindesmissbrauch veröffentlicht. „Kinder und Jugendliche können sich bei sexualisierter Gewalt nicht selbst schützen. Dies zu tun und ihnen zu helfen, ist eine zentrale Aufgabe von Jugendämtern. Wenn das nicht gelingt, sind die Betroffenen zum Teil jahrelang der gewaltvollen Situation ausgesetzt mit weitreichenden Folgen für ihr Leben“, betonte Barbara Kavemann, Mitglied der Aufarbeitungskommission, heute bei einer Pressekonferenz.
Betroffene und Angehörige haben der Unabhängigen Kommission geschildert, wie sie das Handeln der Jugendämter erlebt haben. Die Kommission hat diese Berichte wissenschaftlich auswerten lassen. Ausgewertet wurden 69 Lebensgeschichten von Betroffenen mit Fokus auf die Zeit nach 1990. Ergänzend wurden dazugehörige Jugendamtsakten analysiert und mit Expertinnen und Experten aus der Fachpraxis vertiefende Interviews geführt.
Eine zentrale Erkenntnis der Studie ist Kavemann zufolge, dass in einigen Fällen Hilfe möglich gewesen wäre, aber ausgeblieben ist. Betroffene Kinder oder Jugendliche seien teilweise grundsätzlich bereit gewesen, sich einer Fachkraft des Jugendamtes anzuvertrauen. „Es ist aber nicht gelungen, das dafür notwendige Vertrauen aufzubauen. Dazu hätte es Einzelgespräche ohne die Eltern, einen geschützten Rahmen und mehr Zeit für Gespräche gebraucht“, berichtete die Sozialwissenschaftlerin.
Zudem sei für viele Betroffene das Jugendamt erst einmal mit Angst verbunden gewesen. Diese Ängste waren geprägt durch Medienberichte, durch das soziale Umfeld, aber auch durch die Täter oder Täterinnen. „Sie bauten bewusst eine Drohkulisse auf, dass das Kind aus der Familie genommen und dann ins Heim käme, wenn es mit dem Jugendamt sprechen würde“, erklärte sie.
Auch ein Mangel an fachlichen Kenntnissen sei ausschlaggebend dafür gewesen, dass Fälle sexualisierter Gewalt nicht erkannt wurden und Kindern und Jugendlichen nicht geholfen wurde. Umfragen mit Fachkräften in Jugendämtern sowie aktuelle Fallanalysen deuten der Aufarbeitungskommission zufolge darauf hin, dass diese Probleme auch heute noch bestehen. „Fachkräfte müssten kontinuierlich fortgebildet werden, um die Situation eines betroffenen Kindes zu erkennen und richtig einzuschätzen, um gegebenenfalls schützend eingreifen zu können“, forderte Kavemann.
So sind nach Einschätzung von Thomas Meysen, Co-Autor der Studie, Jugendämter aufgefordert, Kinder und Jugendliche beim Schutzhandeln und in den Hilfeverläufen stärker einzubeziehen: „Der Geheimhaltungsdruck, unter dem von sexueller Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche stehen, ist regelmäßig besonders hoch. Wenn sich Kinder und Jugendliche selbst an Jugendämter oder an andere Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe wenden, brauchen Fachkräfte ein Bewusstsein, dass es in diesen Momenten nichts Wichtigeres gibt, als sich ihnen anzunehmen und ihnen Angebote zu machen.“
Nur dann und erst mit der Zeit gelinge es vielen von sexueller Gewalt betroffenen Kindern und Jugendlichen, sich anzuvertrauen. Wenn der Schutz gelinge, hätten Kinder und Jugendliche ein feines Gespür dafür, ob sie in den Hilfeverläufen aktiv einbezogen werden oder ob sie in der Kinder- und Jugendhilfe einen erneuten Kontrollverlust erfahren.
Die Aufarbeitungskommission fordert, dass Jugendämter Betroffene bei der Wahrnehmung ihres Rechts auf Aufarbeitung unterstützen sollen, ihnen Einsicht in ihre Jugendamtsakte gewähren und ihnen, wenn die Betroffenen dies wünschen, die Möglichkeit geben, Fragen zu stellen sowie ihr damaliges Erleben zu schildern.
„Betroffene setzen sich in ihrem Leben zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten mit ihrer gewaltgeprägten Lebensgeschichte auseinander“, sagte die Kinder- und Jugendlichentherapeutin Ilka Kraugmann, Mitglied im Betroffenenrat bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Der Wunsch nach Akteneinsicht könne dem Bedürfnis entsprechen, biografische Lücken zu schließen, Erinnerungen abzugleichen und wichtige Fragen zu dieser bedeutsamen Lebensphase zu beantworten. Es gehe um das Verfügen über die eigene Lebensgeschichte als Teil ihres Rechtes auf individuelle Aufarbeitung.
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