Tarifbezahlung in der Altenpflege greift, Warnungen vor Mehrbelastung

Berlin – Die Bundesregierung rechnet mit deutlich steigenden Löhnen in der Altenpflege. Die zum heutigen 1. September verpflichtende tarifliche Bezahlung in stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen sorge für Gehaltssteigerungen um bis zu 30 Prozent, teilte das Bundesgesundheitsministerium gestern Abend mit.
Noch zu Zeiten der Großen Koalition hatte die Regierung Pflegeheime und ambulante Dienste verpflichtet, ihre Mitarbeitenden nach Tarif zu bezahlen; sonst können sie ihrer Leistungen nicht mehr mit der gesetzlichen Pflegeversicherung abrechnen.
Das kann entweder durch einen eigenen Tarifvertrag, die Anlehnung an branchenübliche Verträge oder die Bezahlung nach dem regional üblichen Durchschnittsniveau der Pflegetarifverträge geschehen.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklärte dazu: „Die Tariftreueregelung wirkt. Die Löhne der Pflegekräfte in den Heimen steigen erheblich, und das ist gewollt. Endlich wird ihre wichtige Arbeit besser entlohnt.“
Das Ministerium wies darauf hin, dass die Löhne in der Altenpflege in den vergangenen Jahren bereits deutlich gestiegen seien. Von 2017 bis 2021 habe der Lohnzuwachs in der Altenpflege 20,8 Prozent betragen. Damit übertreffe die Lohnentwicklung in der Altenpflege die durchschnittliche Lohnentwicklung aller Branchen mit einem Gesamtanstieg von 9,6 Prozent und in der Krankenpflege mit 13,6 Prozent.
Inzwischen haben rund 90 Prozent aller Einrichtungen eine entsprechende verpflichtende Rückmeldung zur Tariftreue abgegeben, wie der Bundesverband der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) mitgeteilt hatte. Höhere Verdienste auf der einen Seite führen zugleich aber zu Sorgen auf Seiten der Kostenträger, der Arbeitgeber und der Pflegebedürftigen.
Der GKV-Spitzenverband warnte davor, die steigenden Lohnkosten allein auf die Pflegebedürftigen abzuwälzen. „Die gesetzlichen Vorgaben sind so, dass die nun entstehenden Mehrkosten am Ende von den Pflegebedürftigen über höhere Eigenanteile bezahlt werden müssen“, sagte der Vize-Chef des GKV-Spitzenverbands, Gernot Kiefer, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
„Das sollte der Gesetzgeber dringend ändern, damit diese Kosten mehr als heute solidarisch über die Pflegeversicherung finanziert werden können“, forderte er. Die Tariflohnpflicht lobte er ausdrücklich: „Endlich wird die Bezahlung in Anlehnung an die Tarifhöhe zum selbstverständlichen Standard. Darauf mussten die Pflegekräfte viel zu lange warten“, sagte Kiefer.
Für Pflegebedürftige im Heim steigt wegen der höheren Lohnkosten der Eigenanteil, der ohnehin schon auf einem hohen Niveau ist und viele in die Sozialhilfe zwingt. Wer weniger als zwölf Monate im Pflegeheim ist, zahlt derzeit im Schnitt monatlich 2.200 Euro aus eigener Tasche hinzu, nach einem Jahr 2.007 Euro, nach zwei Jahren 1.814 und nach drei Jahren 1.573 Euro.
Auch die Präsidentin des Deutschen Pflegerates, Christine Vogler, wandte sich dagegen, die Mehrkosten auf die Pflegebedürftigen umzulegen. In der Bild forderte sie stattdessen eine „Deckelung der Pflegekosten, die sich an angemessenen Wohn- und Essenskosten orientiert - und an den Renten der Pflegeheimbewohner“.
Wegen steigender finanzieller Belastungen für Pflegebedürftige sprach sich Vogler außerdem dafür aus, die Pflege über die Steuer zu finanzieren. Das Sozialsystem in der Pflege- und Krankenversicherung sei nicht mehr zeitgemäß.
Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbandes Pflege, bezifferte die drohenden Mehrkosten für Patienten auf 600 bis 1.000 Euro pro Monat. Bleibe die Politik weiter untätig, werde es „Schlangen in den Sozialämtern geben mit Angehörigen, die unter den Pflegekosten zusammenbrechen“, warnte Greiner.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) warnte vor Preissteigerungen für die Betroffenen. Dazu dürfe es nicht kommen, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel und appellierte an die Ampel-Koalition, versprochene Reformen zur Finanzierung der Pflege zügig anzugehen. Mehrere Sozialverbände hatten bereits vor höheren Kosten für Pflegebedürftige beziehungsweise ihre Angehörigen gewarnt.
„Tariftreue ist eine gute Nachricht für die Beschäftigten in der Pflege, die schon viel zu lange auf faire Löhne gewartet haben“, sagte Piel. „Die Kosten dafür jetzt den Pflegebedürftigen und ihren Familien anzulasten, ist aber ein Skandal.“ Pflegebedürftige brauchten Entlastungen, mahnte sie. „Preissteigerungen von mehreren hundert Euro pro Monat plus steigende Energie- und Lebensmittelkosten im Pflegeheim bedeuten für viele Menschen existenzielle Not.“
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