Triage gekippt: Bundesverfassungsgericht stärkt ärztliche Berufsfreiheit

Karlsruhe – Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat die umstrittenen Triage-Regelungen im Sinne des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) für nichtig erklärt und damit die Therapiefreiheit und ärztliche Berufsfreiheit gestärkt. 14 Ärztinnen und Ärzte aus der Notfall- und Intensivmedizin hatten die Verfassungsbeschwerde vor rund zwei Jahren mit Unterstützung des Marburger Bundes (MB) angestoßen.
Konkret ist damit der 2022 eingeführte Paragraf 5c IfSG nicht mehr gültig. In diesem Paragrafen hatte der Gesetzgeber erstmals ein Verfahren sowie ein positives Priorisierungskriterium und zahlreiche nicht anzuwendende Kriterien im Falle einer Triage geregelt. Das Gesetz ist allerdings nie zur Anwendung gekommen.
Der Passus war aufgrund eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts von Ende 2021 eingefügt worden. Hintergrund war damals eine Beschwerde von Menschen mit Behinderungen gewesen, die den Gesetzgeber dazu aufgerufen hatten, dafür zu sorgen, dass sie im Fall einer Triage – etwa bei einer möglichen künftigen Pandemie – nicht benachteiligt werden.
Das Bundesverfassungsgericht hatte damals in einem Beschluss festgestellt, dass der Gesetzgeber Vorkehrungen treffen müsse, „damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt werde“, hieß es im Dezember 2021 in der Mitteilung des Gerichts. In der Pandemie waren damals zeitweise Intensivstationen überlastet, Patientinnen und Patienten mussten aus diesen Gründen etwa in andere Krankenhäuser verlegt werden.
Auf Drängen des Bundesverfassungsgerichts hatte der Gesetzgeber daher Vorgaben für die Zuteilung überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten in Zeiten knapper Ressourcen aufgesetzt. Diese würden aber die ärztliche Berufsfreiheit verletzen, argumentierten die Notfall- und Intensivmediziner in ihrer Verfassungsbeschwerde. Dem hat das Bundesverfassungsgericht nun zugestimmt. „Es besteht keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die angegriffenen Regelungen“, erklärte das Gericht heute. Und: „Triage-Regelungen des Infektionsschutzgesetzes sind mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig.“
Das Grundgesetz (Artikel 12 Absatz 1) gewährleiste, „dass Ärztinnen und Ärzte in ihrer beruflichen Tätigkeit frei von fachlichen Weisungen sind, und schützt – im Rahmen therapeutischer Verantwortung – auch ihre Entscheidung über das ‚Ob’ und das ‚Wie’ einer Heilbehandlung“, erläuterte das Bundesverfassungsgericht. Die Regelungen nach 5c IfSG hätten aber die Therapiefreiheit und die Berufsausübungsfreiheit eingeschränkt.
In dem Paragrafen 5c heißt es etwa, dass Triage-Entscheidungen nur aufgrund der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden“ dürfen.
„Komorbiditäten dürfen bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nur berücksichtigt werden, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination, die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern“, steht in dem Gesetz, das nun für nichtig erklärt worden ist. Zudem ist darin ein genauer Ablauf beschrieben, an den sich Ärztinnen und Ärzten bei einer Triage-Entscheidung zu halten haben.
Ausgeschlossen wurde im Gesetz zudem die „Ex-Post-Triage“. Damit hätte eine laufende intensivmedizinische Behandlung zugunsten eines Patienten mit besseren Überlebenschancen nicht mehr abgebrochen werden können.
Die in Paragraf 5c IfSG beschriebenen Regelungen seien darüber hinaus keine Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten, erklärte das Gericht weiter. So würden die Triage-Entscheidungen Infektionsrisiken nicht mindern und dienten deshalb nicht der Pandemiebekämpfung.
Auch betonte das Gericht in seiner heutigen Mitteilung, dass der Paragraf 5c IfSG zwar fürsorgerische Aspekte enthalte, die Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung schützen sollten. Dennoch regele dieser in erster Linie die Reihenfolge der medizinischen Behandlung im Falle einer Triage. Die ärztliche Berufsausübung sowie rechtliche Vorgaben für Krankenhäuser würden im Mittelpunkt stehen.
Die Verfassung habe dem Bund aber nur begrenzte Gesetzgebungskompetenzen im Bereich des Gesundheitswesens zugewiesen. Diese Begrenzung dürfe nicht durch eine zu weit gehende Auslegung der Kompetenzen für die öffentliche Fürsorge umgangen werden.
Ärzteschaft begrüßt das Urteil
„Als Gruppe der persönlichen Beschwerdeführer freuen wir uns über den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts“, sagte Andrej Michalsen, Sprecher der Ärztegruppe, dem Deutschen Ärzteblatt. Dieser Beschluss betone die Freiheit der ärztlichen Berufsausübung auch während Versorgungskrisen und mache außerdem klar, dass eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den jetzt für nichtig erklärten Paragraf 5c IfSG nicht gegeben war.
„Die tatsächliche Anwendung der jetzt verworfenen Regelung hätte keine gerechte Verteilung der Ressourcen in Knappheitssituationen zur Folge gehabt. Vielmehr wären bestimmte Patientengruppen benachteiligt worden und es wären mehr Patienten gestorben, gerade auch Menschen mit Behinderung“, betonte Michalsen, der Facharzt für Anästhesiologie mit Zusatzbezeichnung Notfall- und Intensivmedizin ist.
Ärztinnen und Ärzte könnten nun weiterhin unter Wahrung ethischer Standards allen Patienten eine faire Teilhabe an einer bestmöglichen medizinischen Versorgung ermöglichen – auch bei Ressourcenknappheit, so Michalsen.
Auch der Marburger Bund (MB) begrüßte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. „Das ist ein großer persönlicher Erfolg für die beschwerdeführenden Ärztinnen und Ärzten und eine für die gesamte Ärzteschaft höchst bedeutsame Entscheidung“, erklärte die erste Vorsitzende des MB, Susanne Johna. Das Bundesverfassungsgericht habe klargestellt, dass die Ausübung ärztlicher Tätigkeit nicht durch unzulässige staatliche Vorgaben eingeengt werden dürfe.
„Zur Berufsfreiheit gehört gerade auch die Freiheit und Verantwortung, selbst in medizinischen Dilemmasituationen ärztliche Entscheidungen nach fachlicher Kenntnis und eigenem Gewissen in kollegialer Übereinstimmung zu treffen“, sagte Johna. Das bedeute, dass Ärztinnen und Ärzte in einer extremen Notlage bei begrenzten intensivmedizinischen Ressourcen, alles in ihrer Macht Stehende tun würden, um unter derart schwierigen Umständen die größtmögliche Zahl an Menschenleben zu retten.
„Die Entscheidung stärkt die verfassungsrechtliche Stellung der Ärztinnen und Ärzte und gibt ihnen Rechtssicherheit auch für ihr Handeln in medizinischen Krisenlagen“, so Johna weiter. „Sie zeigt auch, dass das Bundesverfassungsgericht den ärztlichen Beruf als eigenverantwortliche Profession versteht, deren Freiheit und Ethik eine Grenze für staatliche Regulierung bilden.“
Einzelfallentscheidungen wichtiger als starre Vorgaben
Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, erklärte heute, das Urteil stärke die Berufsausübungsfreiheit und stelle sicher, dass medizinische Entscheidungen auf Basis der medizinisch-fachlichen Beurteilung und der Situation der Patientinnen und Patienten getroffen werden könnten.
Die BÄK sieht in der Entscheidung aus Karlsruhe einen wichtigen Beitrag, um ärztliches Handeln in Grenzsituationen mit den Grundsätzen der Ethik, Menschlichkeit und Verantwortung sowie mit der medizinisch-wissenschaftlichen Evidenz in Einklang zu halten.
Zentral sind der BÄK zufolge die Patientenautonomie sowie das Prinzip der Gleichbehandlung allen menschlichen Lebens. Bei nicht ausreichenden Ressourcen dürften solche Entscheidungen nicht starren gesetzlichen Vorgaben folgen, sondern erforderten stets eine Abwägung im Einzelfall, hieß es.
Als eine „wichtige Entscheidung für die Therapiefreiheit und die Verantwortung der Ärztinnen und Ärzte gegenüber ihren Patientinnen und Patienten“ bezeichnete Gernot Marx, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), heute das Urteil.
Ärztliches Handeln müsse sich an medizinischer Evidenz, fachlicher Kompetenz und ethischer Verantwortung orientieren – nicht an juristischen Vorgaben, die die Komplexität klinischer Entscheidungsprozesse nicht ausreichend abbilden, erklärte Marx.
„Das Verbot hätte es – und das nicht nur unter Pandemiebedingungen – Ärztinnen und Ärzten deutlich erschwert, notwendige Therapiezieländerungen im klinischen Alltag umzusetzen“, erklärte er weiter. Diese Anpassungen seien jedoch gelebte Praxis in der Intensivmedizin.
Aus Sicht von DGAI und des Berufsverbands Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten (BDA) ist es entscheidend, dass Fachgesellschaften und klinisch erfahrene Expertinnen und Experten in die Ausarbeitung zukünftiger Regelungen einbezogen werden. Nur so könnten praxisgerechte und medizinisch tragfähige Standards entwickelt werden, die Ärztinnen und Ärzte in Extremsituationen unterstützten, ohne sie zu überfordern.
Flickenteppich an unterschiedlichen Regelungen droht
Der Intensivmediziner und Leiter des ECMO-Zentrums am Klinikum Köln-Merheim, Christian Karagiannidis, begrüßte das Urteil ebenfalls. „Klarheit schafft das Urteil in meinen Augen aber aktuell noch nicht“, sagte er. Das Bundesverfassungsgericht habe primär festgestellt, dass die Zuständigkeit nicht beim Bund liege.
In der Begründung heiße es: ‚Nach der aktuellen Kompetenzverteilung des Grundgesetzes tragen die Länder maßgeblich die Verantwortung für diskriminierungssensible Allokationsregeln im Sinne reiner Pandemiefolgenregelungen, die auch länderübergreifend tragfähige Entscheidungen ermöglichen müssen.‘ Damit drohe ein Flickenteppich der Regelungen der 16 Bundesländer, wenn hier keine einheitliche Regelung getroffen werde, fürchtet Karagiannidis. „Stand heute wären wir damit erstmal auf dem Stand vor der Pandemie.“
Eine Triage-Situation sei bei Infektionserkrankungen aber zum Glück bislang noch nie eingetreten, betonte Karagiannidis. „Aus großen Unfällen und Massenanfällen von Verletzten haben wir aber gelernt, dass es wichtig ist, diejenigen zu retten, die eine realistische Prognose auf Überleben haben. Und davon möglichst viele.“
Um Triage-Situationen zu vermeiden, sei eine kluge Patientensteuerung, etwa mithilfe des DIVI-Intensivregisters nötig, erklärte Karagiannidis, der auch Leiter des Registers ist. Er plädierte für eine Ausweitung des Registers über Europa hinweg in Anbetracht möglicher Krisen.
„Die Entscheidung hat insoweit gar nichts geklärt, weil sie sich inhaltlich mit der Frage nach genauen Triage-Kriterien gar nicht befasst hat“, erklärte Stefan Huster, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Der Auftrag gesetzliche Regelungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen vor Diskriminierung zu schaffen, bestehe weiterhin.
Auch Huster befürchtet nun einen Flickenteppich an Triage-Vorgaben. „Die Länder selbst hatten in dem Verfahren von 2021 darauf hingewiesen, dass der Vorteil einer ‚bundesgesetzlichen Regelung‘ die Herstellung von Rechtssicherheit sei.“ Gleiches werde man von – möglicherweise unterschiedlichen – landesgesetzlichen Regelungen nicht sagen können.
Georg Marckmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), betonte, im Ergebnis bleibe die Frage unbeantwortet, nach welchen inhaltlichen Kriterien knappe Intensivbetten nun im Falle einer Überlastung der Strukturen zugeordnet werden sollten. „Es gibt bislang nur die Leitlinie der Fachgesellschaften, die im Frühjahr 2020 erstellt wurde, da es keine anderen Vorgaben für Triage-Entscheidungen in Deutschland gab“, sagte Marckmann.
Warken: Werden das Urteil mit den Ländern besprechen
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) bezeichnete das Urteil heute vor Journalisten in Berlin als „wichtig“. „Wir brauchen rechtssichere Regelungen in solchen Ausnahmesituationen für Betroffene und für Ärztinnen und Ärzte, die sich in ihrer Handlungsentscheidung auf rechtssichere Vorgaben verlassen müssen“, sagte die Ministerin.
Sie betonte, der Staat habe eine Schutzpflicht gegenüber seiner Bevölkerung. „Dies gilt ohne jegliche Einschränkung auch für Menschen mit einer Behinderung. Das ist nicht verhandelbar und muss auf ein rechtssicheres Fundament gesetzt werden. Dieser Pflicht werden und müssen wir gerecht werden“, betonte Warken.
Gleichermaßen dürfe der Rechtsrahmen der Berufsfreiheit von Ärztinnen und Ärzten nicht unangemessen eingeschränkt werden. Und deshalb wird die Bundesregierung dieses Urteil sehr genau prüfen und zusammen mit den Ländern die notwendigen Schlüsse daraus ziehen. Denn diese haben nach der Entscheidung des höchstens Gerichts die Regelungskompetenz.
Diskutieren Sie mit
Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.
Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.
Diskutieren Sie mit: