Vermischtes

Viel Luft nach oben bei Einbeziehung von Patienten­organisationen in Gesundheitsforschung

  • Dienstag, 12. November 2024

Berlin – Obwohl die Bereitschaft von Patientenorganisationen, an der Grundlagen- und Versorgungsforschung be­teiligt zu sein, sehr hoch ist, liegt auf diesem Gebiet noch sehr viel Potenzial. Gerade bei den der­zeitigen digitalen Transformationsprozessen im Gesundheitswesen wollten und müssten Patienten und ihre Ver­tretungen viel mehr und auch von Beginn aktiv eingebunden werden.

Dies betonten heute die Teilnehmenden bei der Abschlusstagung „Ethik einer partizipativ gestalteten digitalen Ge­sundheitsforschung und -versorgung“ des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsverbunds Pandora.

Ein heute veröffentlichtes Positionspapier formuliert zudem Lösungsansätze, wie die Patientenbeteiligung an der Entwicklung der Digitalisierung im Gesundheitswesen und der Gesundheitsforschung künftig unterstützt werden kann.

„Unterstützung ist nötig, denn trotz ihres Willens zu Partizipation gibt es viele Hürden für die Patientenorganisa­tionen“, erklärte die Leiterin des Forschungsverbundes, Sabine Wöhlke, von der Hochschule für Angewandte Wissen­schaften Hamburg.

Insbesondere bestünden diese nach Ansicht der Professorin für Gesundheitswissenschaft und Ethik aufgrund sehr unterschiedlicher Interessen und Erwartungen der verschiedenen Akteure an partizipativer Forschung. „Forschende in der Medizin erwarten oft, dass damit die Datenerhebung effizienter wird, wohingegen Patientenorganisationen auch über grundsätzliche Zielsetzungen diskutieren möchten.“

Zudem setzten sich in der Vorbereitung von partizipativer Zusammenarbeit beide Akteursgruppen zu wenig mit den Erwartungen der anderen auseinander. „Es bestehen Macht- und Wissenshierarchien“, verdeutlichte Wöhlke. For­schende sollten reflektieren, wie eine langfristige, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Patientenvertretenden aussehen könne.

„Dazu sind Reflexion der eigenen Erwartungen und Ziele, Umgang mit Macht, Transparenz in der Kommunikation, aber auch Anerkennung von Erfahrungsexpertise wichtig. Eine intensivere Auseinandersetzung mit Machtasymme­trien und der oft fehlenden Transparenz über Forschungsprozesse ist geboten, um der bisher noch zu oft existie­renden Scheinpartizipation entgegenwirken zu können.“

Thomas Duda von Pro Retina Deutschland verglich die derzeitige Situation in der medizinischen Forschung mit einer Münze: auf der einen Seite befänden sich die Forschenden, auf der anderen die Patientenorganisationen.

„Leider ist es meist so, dass die Patientenseite nach unten gerichtet auf dem Boden liegt“, bedauerte er. „Die Erfah­rungen der Patientinnen und Patienten sind ein komplementäres Gut zur Forschung“, sagte er. Leider werde jedoch das hohe Potenzial oft nicht erkannt und nicht gehoben. „Wir brauchen mehr Mut und Verantwortung für ein Umdenken“, so Duda.

Tatsächlich denke man zunächst an Universitäten oder Arztpraxen, wenn über die Digitalisierung im Gesundheits­we­sen gesprochen werde, bestätigte die Medizinethikerin Claudia Wiesemann von der Universitätsmedizin Göttin­gen. Doch ein nicht unbeträchtlicher Teil der Digitalisierungsprozesse werde von Selbsthilfeverbänden und Patien­tinnenorganisationen vorangetrieben.

„Mit Hilfe von Patientenregistern, Gesundheits-Apps oder telemedizinischen Angeboten versuchen Patientinnen und ihre Angehörigen, die Versorgung zu verbessern. Dies ist eine wichtige Leistung, um den Stimmen und Inter­essen der Betroffenen selbst mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen“, so Wiesemann.

Für mehr Aufmerksamkeit in Politik und medizinischer Forschung soll auch das Pandora-Positionspapier sorgen, dass von 39 Patienten- und Selbsthilfeorganisationen innerhalb eines Jahres in einem konsensorientierten Prozess erarbeitet und heute vorgestellt wurde. Im Kern enthält es auf knapp 20 Seiten Empfehlungen und Lösungsansätze, wie die Beteiligung von Patientinnen und Patienten an der Entwicklung der Digitalisierung im Gesundheitswesen und der Gesundheitsforschung besser unterstützt werden kann.

„Patientenorganisationen sind bei den Themen Forschung und Versorgung einer digitalen Gesundheitsversorgung auch betroffen, so dass sie Probleme benennen und Lösungen aus ihrer Sicht aufzeigen können, die für die politi­sche Gestaltung relevant sind“, betonte Wöhlke. Um jedoch ein Mindestmaß an Kooperation zwischen Patienten, Patientinnen und Forschenden herbeizuführen, müssten Patienten, Patientinnen und ihre Vertretungen aktiv in digitale Transformationsprozesse von Anfang an eingebunden werden. Dies sei ein Kernpunkt der Empfehlungen.

Ferner müsse die Partizipation von Patientenorganisationen, Betroffenen und Angehörigen bei der Anwendung von digitalen Forschungsprozessen von allen Beteiligten realistisch gestaltet werden. Dazu gehöre eine gute fachliche, monetäre, personelle, strukturelle und technische Ausstattung der Patientenorganisationen.

Forscher müssten sich auf Patienten einlassen und auch versuchen, ihre ehrenamtlichen Strukturen zu verstehen, verdeutlichte Wiebke Papenthin vom Morbus Wilson Verein diesen Punkt. Es sei etwas anderes, wenn ein Patient in seiner Freizeit an einem Kongress teilnehme, als wenn ein Forscher dort sein Paper vorstelle. „Partizipation muss realistisch gestaltet sein“, betonte auch sie.

Erforderlich sei eine Befähigung der Patientenorganisationen zur Teilnahme am Forschungsprozess. Teilweise benö­tigten sie auch wissenschaftliche Erläuterungen und inhaltliche Förderung. „Ziel des Positionspapiers ist es, zu ver­deutlichen, dass durch informierte Patientinnen und Patienten wie auch durch den Input aus ihrem Erfahrungs­schatz Forschungsergebnisse bedarfsorientierter angewendet werden können.“

Momentan fehlten akademisch Forschenden häufig noch die Vorstellungen darüber, wofür die partizipative Zu­sammenarbeit mit den Patienten überhaupt genutzt werden könne, unterstrich Wöhlke. Beiden Akteursgruppen mangele es häufig an Kompetenzen, diese Macht- und Wissenshierarchien frühzeitig zu erkennen, entsprechend zu kommunizieren und ein transparentes Vorgehen von Beginn an umzusetzen.

„Wir empfehlen einen Kooperationsvertrag, in dem gemeinsam die Ziele, Interessen und Erwartungen im Rahmen der Zusammenarbeit geklärt werden“, sagte sie. Dieser Vertrag könne um einen „Code of Compliance“ ergänzt werden, der Vereinbarungen zum respektvollen Miteinander enthalte.

„Wir halten das Positionspapier für ein wichtiges Instrument, die reflektierte und selbstbestimmte Position einer Vielzahl von Patientenverbänden in die deutsche Debatte einzubringen“, resümierte Silke Schicktanz, Ethikpro­fes­sorin an der Universitätsmedizin Göttingen.

Man verspreche sich davon, dass die Sicht auf das „Wie“ in der digitalen Transformation des deutschen Gesund­heitswesens mehr in den Vordergrund gerückt werden sollte, und nicht nur, dass das „ob“ und das „was“ diskutiert werde. Es benötige in Deutschland, so Schicktanz, die Etablierung von Qualitätskriterien für die partizipative Forschung sowie die Bereitstellung von ausreichend finanziellen und zeitlichen Ressourcen.

ER

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