Vielfältige Langzeitfolgen sexualisierter Gewalt 25 Jahre nach Kosovokrieg

Pristina/Köln – Sexualisierte Gewalt während des Kosovokrieges beeinflusst das Leben von Betroffenen auch ein Vierteljahrhundert danach stark. Das ist das Ergebnis eines heute veröffentlichten Reports der Frauenrechtsorganisation medica mondiale und der Partnerorganisation Medica Gjakova.
„Wir sehen nach wie vor sehr ernsthafte und vielfältige Langzeitfolgen bei unseren Klientinnen und Klienten, zum Beispiel auf psychischer Ebene", sagte Monika Hauser, Vorständin und Gründerin von medica mondiale, heute dem Deutschen Ärzteblatt. 86 % der Befragten erfüllten Kriterien für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung, 96 % erfüllten die Kriterien in Bezug auf eine klinische Depression.
Hinzu kämen oft Angst und ein als schlecht empfundener Gesundheitszustand. „Schmerzzustände geben sehr viele Patientinnen und Patienten nach wie vor an“, sagte Hauser. 35 % von ihnen berichteten, sich einem medizinischen Eingriff oder einer Operation unterzogen zu haben, am häufigsten einer Hysterektomie und einer Konisation.
Für den Bericht gaben rund 190 Teilnehmerinnen sowie neun Teilnehmer mittels Fragebögen Auskunft, 20 Betroffene wurden ausführlich interviewt. Der Kosovokrieg endete vor gut als 25 Jahren, im Sommer 1999.
Dem Report zufolge beläuft sich die Zahl der damals vergewaltigten Mädchen und Frauen auf schätzungsweise 20.000. Es gab demnach auch einige männliche Opfer solcher Taten. Unter den Tätern seien die serbische Polizei, Paramilitärs und Soldaten der jugoslawischen Armee gewesen.
Betroffenen wird auch Stärke und Wachstum bescheinigt
In einer deutschsprachigen Zusammenfassung des Berichts wird aber auch die hohe Resilienz jener Überlebenden betont, die Hilfe in Anspruch nehmen. „Die Ergebnisse deuten also auf eine Koexistenz von Leiden einerseits und Stärke und Wachstum andererseits hin“, heißt es. Die Ergebnisse zeigten, dass langfristige ganzheitliche Unterstützung in Form stress- und traumasensibler Angebote zur Stabilisierung dieser Menschen beitrage.
Die Befragung ist nicht repräsentativ. Bei den Teilnehmenden handelt es sich um Menschen, die Angebote bei Medica Gjakova nutzten, beispielsweise wurden sie beim Beantragen von Reparationszahlungen unterstützt, nahmen an Einzelberatungen oder Selbsthilfegruppen teil.
Viele von ihnen machten im Krieg neben sexualisierter Gewalt noch weitere Verlust- und Gewalterfahrungen: Sie wurden beispielsweise von zu Hause vertrieben, wurden Zeugen von Gewalt bis hin zu Tötungen, verloren Angehörige oder wurden inhaftiert und gefoltert.
Verbreitetes Schweigen über die Taten
Die Befragung zeigt zudem erhebliche soziale Langzeitfolgen. Beispielsweise berichtete fast die Hälfte der Befragten, Überlebende zu kennen, die noch nie über ihre Erlebnisse gesprochen hätten. Ängste davor, Schande über die Familie zu bringen, und vor sozialer Ausgrenzung, sind demnach besonders stark ausgeprägt. Fast 80 Prozent der Befragten äußerten die Ansicht, dass die meisten Menschen nicht bereit wären, Überlebende zu heiraten.
Das Autorenteam beschreibt insbesondere die Ergebnisse zu den Auswirkungen auf das Familienleben und die Kinder der Überlebenden als alarmierend. 67 Prozent der Teilnehmenden seien der Ansicht, dass ihre Gewalterfahrungen das Familienleben vollständig prägen. Weitere 30 Prozent gaben an, dass sie es in Teilen prägen. Außerdem vermeiden viele der Teilnehmenden soziale Interaktionen wie Familienzusammenkünfte.
„Deshalb sprechen wir von einem traumatischen Prozess“, sagte Hauser. „Das heißt, es war nicht nur das Trauma der Vergewaltigungen und das Trauma des Krieges und der Flucht. Sondern es geht um anhaltende Retraumatisierungen über die Jahrzehnte, weil die Frauen nicht zur Ruhe kommen und ihre Traumata nicht verarbeiten können. Sie werden immer wieder erinnert, durch das falsche Verhalten der Gesellschaft, aber auch von Fachpersonal.“
Im Original trägt der Report den Titel „I am not guilty for what happened to me“ (Ich bin nicht schuld an dem, was mir passiert ist). Dass Betroffenen in patriarchalen Strukturen die Schuld zugewiesen werde, sei unabhängig vom Kriegskontext bei Vergewaltigungen immer noch verbreitet, auch in Deutschland, sagte Hauser.
Frauen stattdessen zu stärken und ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem über das Erlebte gesprochen werden kann, sei entscheidend. „Es ist fatal, wenn Fachpersonal Retraumatisierungen verursacht.“
Auch transgenerationale Traumata in den Blick nehmen
Es gebe in mehreren Ländern – bisher oft vergeblich – Bemühungen, das Thema in die Curricula der Ärzteausbildung aufzunehmen, sagte Hauser. „Das ist für uns sehr wichtig, damit sich nachhaltig etwas verändern kann. Denn diese Traumatisierungen sind auf Generationen hin angelegt.“
Auf transgenerationale Traumatisierungen müsse Fachpersonal vorbereitet sein, unabhängig davon, ob man es mit deutschen Patientinnen oder mit Migrantinnen zu tun habe. „Es braucht ein Bewusstsein dafür, was ihnen passiert sein könnte. Hier brauchen wir eine ordentliche Qualifizierung“, sagte Heuser. Neben dem Gesundheitswesen brauche es Verbesserungen diesbezüglich etwa auch in der Justiz.
Mit Blick auf heutige Konflikte und Kriege wie zum Beispiel in der Ukraine sagte sie, es müsse sehr viel schneller Unterstützung für Betroffene geben, um letztlich von den bisherigen Erkenntnissen profitieren zu können. Hauser bemängelte, dass Frauenrechtsorganisationen bisher oft allein damit seien, sich dieser Themen anzunehmen. Wenn Frauen, etwa in der Außenpolitik, nicht mit am Tisch säßen, spielten diese Themen gar keine Rolle.
Die Organisation medica mondiale hat zu dem Report einige Empfehlungen an die Bundesregierung formuliert. Dazu zählen bezogen auf den Gesundheitsbereich beispielsweise direkte stress- und traumasensible Unterstützungsangebote in Form von medizinischer Versorgung, psychosozialer und rechtlicher Beratung.
Gebraucht werde ein Zugang zum gesamten Spektrum von sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen wie sicheren Schwangerschaftsabbrüchen, Notfallverhütung und Prävention von sexuell übertragbaren Infektionen.
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