Wie Jugendliche nach sexualisierter Gewalt im Childhood-Haus versorgt werden

Berlin – Untersuchungen, wiederholte Befragungen und teils mehrjährige Verfahren: Kindern und Jugendlichen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben und Anzeige erstatten, drohen dabei retraumatisierende Erfahrungen. Vermieden werden soll dies mit Projekten wie dem Childhood-Haus, das es beispielsweise an der Universitätsklinik Charité in Berlin gibt.
Rund vier Jahre nach der Eröffnung der dortigen Einrichtung hat die Projektleiterin eine positive Zwischenbilanz gezogen. Bislang würden jährlich etwa 150 Kinder und Jugendliche dort betreut, hauptsächlich gehe es um Betroffene ab ungefähr zwölf Jahren, sagte Sibylle M. Winter anlässlich des heutigen ersten Spatenstichs für einen Neubau nur für das Berliner Childhood-Haus.
In der ambulanten Einrichtung kommen mehrere Professionen unter einem Dach zusammen, um betroffene Kinder in vertrauter Umgebung zu versorgen: unter anderem medizinisch, mit Spurensicherung und psychosozialer Nachsorge. Bisher sei sie in Berlin sehr beengt in der Charité-Kinderschutzambulanz untergebracht. Nach Bauabschluss, der für Ende 2025 vorgesehen sei, könnte die Zahl der im Childhood-Haus versorgten Jugendlichen nach Angaben Winters noch steigen.
Aus den USA, wo es derartige Projekte (Child Advocacy Centers) schon am längsten gebe, liege Evidenz vor, berichtete Winter: Die Zufriedenheit der Kinder und ihrer Familien könne steigen, wenn ein solches Haus im Spiel sei.
Das liege an dem kinderfreundlichen Ansatz dieser Projekte und der vertrauten Umgebung, in der das betroffene Kind etwa mit Fachleuten aus Medizin, Psychologie, Sozialpädagogik, Jugendamt, Polizei und Justiz in Kontakt komme. Die wichtige enge sektorenübergreifende Kooperation müsste aus Winters Sicht in Deutschland aber auch noch gesetzlich erleichtert werden.
Die Belastung für die Betroffenen senken
Das Konzept ziele auf eine Stärkung des Kindes und ein Absenken der Belastung ab, sagte Winter. Im Childhood-Haus stehe das Kindeswohl an erster Stelle, was bisher in Verfahren nicht immer der Fall sei. In der Berliner Einrichtung werden Kinder und Jugendliche nach Zuweisung durch die Polizei versorgt. Voraussetzung ist, dass eine Anzeige vorliegt und die Tat maximal ein halbes Jahr zurückliegt.
Neben der Zufriedenheit könnte im Zusammenhang mit solchen Einrichtungen auch die Verurteilungsrate steigen, die weltweit nach sexualisierter Gewalt eigentlich sehr niedrig sei, wie die Expertin berichtete. „Warum steigt sie? Die Kinder werden so wenig wie möglich befragt, von kompetenten Menschen. Dadurch steigt die Aussagequalität.“
Letztlich werde das gesamte Verfahren beschleunigt, sagte Winter. „Insbesondere bei sexualisierter Gewalt ist die Aussage sehr entscheidend“, berichtete Winter, die stellvertretende Klinikdirektorin und leitende Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité ist. „Die Verfahren dauern hier aktuell drei bis vier Jahre.“
Polizei und Ermittlungsrichter haben im Childhood-Haus die Möglichkeit, die Vernehmungen auf Video aufzunehmen. „Dann kann sie in der Hauptverhandlung ersetzend für eine Aussage sein“, sagte Winter. „Das heißt, für das Kind könnte es innerhalb dieses Childhood-Hauses zu einem Abschluss dieses Verfahrens kommen, nach meiner Vorstellung idealerweise innerhalb von drei Monaten.“
Bundeweit gibt es schon mehrere Childhood-Häuser
Zum ersten Spatenstich war heute Königin Silvia von Schweden in Berlin, die 1999 Stiftung World Childhood Foundation gründete. Deren Ziele sind der Schutz des Rechts der Kinder auf eine sichere und liebevolle Kindheit und das Verbessern der Lebensbedingungen von Kindern, die sexuellem Missbrauch und Gewalt ausgesetzt sind.
Bundesweit sind in den vergangenen Jahren zehn Childhood-Häuser eröffnet worden, angestrebt wird eine solche Einrichtung pro Bundesland. Der Neubau in Berlin soll nach Angaben Winters auf einem bisherigen Parkplatz nahe der Kinderklinik auf dem Campus Virchow-Klinikum entstehen. Die vorgesehenen Kosten von rund 2,8 Millionen Euro würden größtenteils durch Spenden ermöglicht, hinzu komme ein kleinerer Eigenanteil der Charité.
Betroffene Kinder sind schwer erreichbar
Ein Grundproblem bleibe, dass viele Kinder, die sexualisierte Gewalt erlebten, nicht erreicht beziehungsweise entdeckt würden: „Wenn jemand so etwas erlebt hat, möchte er davon nichts mehr wissen, nicht darüber sprechen“, sagte Winter. Die Person denke, wenn der Termin nicht wahrgenommen werde, sei die Tat nicht passiert. „Das ist die Schwierigkeit.“
Kinder, die zum Beispiel in der Familie immer wieder sexualisierte Gewalt erlebten, wüssten auch oft nicht, dass dies nicht normal ist. Auch Loyalitätsprobleme könnten hinzukommen. „Sie schützen zum Beispiel ihre Eltern. Zum Teil manipulieren Eltern auch ihre Kinder, nichts zu sagen“, schildert Winter.
Unterschiedliche Aufgaben im Vergleich zu Kinderschutzambulanzen
Winter beschreibt das Childhood-Haus als eine „Forensik- und Versorgungseinheit“, in Abgrenzung zu den Berliner Kinderschutzambulanzen, die unabhängig von einer Anzeige bei der Polizei den Verdacht der Kindeswohlgefährdung abklärten (körperliche, emotionale oder sexualisierte Gewalt und Vernachlässigung). Diesen Ambulanzen an mehreren Berliner Kinderkliniken werden Fälle über die Jugendhilfe oder aus dem Gesundheitssystem zugewiesen.
Die Fachleute in der Charité-Kinderschutzambulanz müssen sich manchmal damit zufriedengeben, dass nach der Abklärung offenbleibt, ob einem Kind etwas angetan wurde oder nicht, wie Winter berichtet. Auch nicht jeder schlimme Verdacht von Eltern und/oder Beratungsstellen bestätige sich: In Gesprächen mit den angeblich betroffenen Kindern fänden sich manchmal keine Anhaltspunkte, um dies zu erhärten.
Dabei gehe es beispielsweise um Fälle, in denen Erzieher beschuldigt werden, ein Kind im Kita-Alter sexuell missbraucht zu haben. Es komme aber auch vor, dass Fälle wegen ihrer strafrechtlichen Relevanz an das Childhood-Haus weiterverwiesen werden.
Was Ärztinnen und Ärzte tun können
„Im Bundeskinderschutzgesetz steht, dass alle Ärzte bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung die Eltern ansprechen und auf Unterstützung hinwirken sollen“, sagte Winter.
Wenn die Eltern diese Unterstützung nicht annähmen, gebe es die Möglichkeit der anonymisierten Beratung und dann gegebenenfalls die Möglichkeit, das Jugendamt einzubeziehen, auch wenn die Sorgeberechtigten nicht einverstanden sind.
„In Berlin können Ärzte an die Kinderschutzambulanzen zuweisen, in anderen Regionen deckt decken die Childhood-Häuser auch die Tätigkeit der Kinderschutzambulanz ab“, sagte die Fachfrau.
Teilweise fällt erst im Rahmen der Behandlung anderer Krankheiten oder Beschwerden auf, dass ein Kind Gewalt ausgesetzt ist. Am Virchow-Klinikum der Charité beispielsweise werden nach Angaben Winters pro Jahr etwa 50 Kinder stationär aufgenommen werden, bei denen sich herausstelle, dass die Verletzung durch Gewalt entstanden ist, und nicht etwa durch einen Unfall.
Hinzu kämen allein dort rund 1000 ambulante Behandlungen wegen verschiedener Erkrankungen, bei denen im Verlauf der Behandlung festgestellt wird, dass die Kinder auch Gewalt und /oder Vernachlässigung erleben. In diesen Fällen werde die Kinderschutzgruppe einbezogen.
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