Von der Leyen warnt vor Rückschlägen für Öffentliche Gesundheit

Hannover – Ursula von der Leyen warnt vor Rückschritten im Bereich der Öffentlichen Gesundheit wie der Rückkehr vermeidbarer Erkrankungen. Man müsse „ernsthaft fürchten", dass mühsam errungene Erfolge zurückgedreht würden, sagte die EU-Kommissionspräsidentin gestern an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).
„Das, was uns allen hier im Saal so selbstverständlich erscheint, ist es nicht mehr. Wir müssen hart darum ringen, den Fortschritt zu wahren“, so von der Leyen in ihrer Festrede beim Gedenksymposium für den früheren Direktor des Instituts für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Friedrich Wilhelm Schwartz (1943-2024). Die heutige Spitzenpolitikerin war einst Studentin bei ihm.
„Die Welt ist, das spüren wir alle, in Unordnung geraten“, sagte von der Leyen und verwies auf Kriege und geopolitische Instabilität, Klimawandel und Umweltzerstörung, gekürzte Hilfs- und Impfprogramme und die jeweiligen gesundheitlichen Folgen. Hinzu komme Desinformation, die den globalen Fortschritt bei der Bekämpfung von Krankheiten wie Masern oder Polio bedrohe.
Ihre Rede war aber auch ein Plädoyer, weiter für Verbesserungen der globalen Gesundheit einzutreten und trotz Rückschlägen die Zuversicht nicht zu verlieren. Man könne stolz sein auf die deutlich gesunkene Sterblichkeit von Müttern und Kindern unter fünf Jahren, die Ausrottung der Pocken und die Entwicklung etlicher Impfstoffe gegen lebensbedrohliche Krankheiten.
Doch der „Wille zum Besseren“ werde derzeit sehr strapaziert, so von der Leyen. Wenn Schwartz noch leben würde, so würde er sich nach ihrer Einschätzung für vier Säulen guter Public-Health-Politik aussprechen, die gestärkt werden müssen. Sie zählte auf: globale Verantwortung, Weitblick, Innovationskraft und Vertrauen. „Wer heute glaubt, man könne sich in eine nationale Nische zurückziehen und sei so auf der sicheren Seite, der irrt“, sagte sie.
Neue Resilienzinitiative in Arbeit
Europa bleibe bei der globalen Gesundheit ein essenzieller Partner. „Wir werden alles dafür tun, die weltweite Gesundheitsvorsorge zu stärken.“ Sie verwies auf eine neue „Global Health Resilience Initiative“, an der gearbeitet werde. „Um zum Beispiel endlich Polio weltweit vollständig zu besiegen.“
Es gelte bei den Global-Health-Bemühungen aber, die Definition der Verantwortung zu modernisieren. Die COVID-19-Pandemie habe eine extreme Abhängigkeit ärmerer Länder von Impfstoffimporten gezeigt. Man müsse daher vom „Geber zum Ermöglicher“ werden: durch Finanzierung, Technologietransfer und Kapazitätenaufbau, damit afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Länder dann selbst Impfstoffe entwickeln und produzieren könnten.
Von der Leyen betonte zum Stichwort Weitsicht, dass aus der COVID-19-Pandemie Lehren gezogen worden seien, um im Fall einer künftigen derartigen Notlage besser dazustehen.
KI-Umsetzung soll beschleunigt werden
Zum Thema Innovationen hielt sie fest, dass KI in der EU noch ungleichmäßig verbreitet und die Umsetzung zu langsam sei. Für mehr Tempo sei im Oktober eine neue Strategie auf den Weg gebracht worden, die die Anwendung von KI auch im Gesundheitswesen, vorantreibe. Gleichzeitig dürften die Prinzipen Sicherheit, Verantwortung und Vertrauen nicht vernachlässigt werden. Es gelte, fundamentale Rechte der Patienten und ihre Daten zu schützen.
Um Vertrauen müsse man kämpfen. Hier gelte es, mit Fakten vor die Welle zu kommen: „Wir müssen mögliche Falschinformationskampagnen im Netz entdecken, bevor sie zur Welle werden.“ Beispielsweise müssten auch Kompetenzen gestärkt werden, damit Menschen irreführende Informationen selbst erkennen können.
Europa ziehe verstärkt internationale Forschende an
Von der Leyen konstatierte außerdem einen andauernden „Feldzug" gegen die freie Wissenschaft und berichtete diesbezüglich vom Erfolg einer europäischen Initiative namens „Choose Europe“, mit der internationale Forschende angeworben werden sollen. „Unsere Wissenschaftsfreiheit macht Europa zum Magneten“, sagte sie.
Konkret sprach die EU-Kommissionspräsidentin von einem „Run auf Postdoktorandenstipendien“. Die Zahl der Bewerbungen seien um 64 Prozent auf mehr als 17.000 gestiegen. Bei Top-Nachwuchsforschern gebe es 22 Prozent mehr Bewerbungen als im Vorjahr, mit einem Rekord von 4.807 Vorschlägen, wobei es eine starke Zunahme der außereuropäischen Anträge gegeben habe.
Bei der Förderung für etablierte Spitzenforscher habe sich die Zahl der Bewerbungen aus dem nicht europäischen Ausland „nahezu vervierfacht“. Genauere Angaben zu den verglichenen Zeiträumen machte sie nicht.
Schwartz gilt als Public-Health-Pionier
Schwartz war vor gut einem Jahr, am 12.10.2024, im Alter von 81 Jahren gestorben. Die MHH würdigt Schwartz als „Pionier von Public Health in Deutschland“. Er hatte dort 1989 einen der ersten Public-Health-Masterstudiengänge in Deutschland gegründet.
Vieles, was heutzutage selbstverständlich erscheine, beruhe auf dem Wirken von Schwartz, betonte die heutige Direktorin des Instituts an der MHH, Ulla Walter. Er habe den Weg geebnet und nachfolgenden Generationen neue Tätigkeitsfelder eröffnet. „Er fehlt uns: als mutiger Pionier, als Förderer neuer Ideen und Strukturen, als kritische Stimme in aktuellen Debatten und als warmherziger Mensch.“
Von 1974 bis 1985 war Schwartz Direktor des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) und von 1972 bis 1984 Geschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Daneben beriet er unter anderem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die EU und war Vorsitzender sowie langjähriges Mitglied des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Dem Epidemiologie-Institut der MHH stand er von 1985 bis 2009 vor.
Zu seinen Verdiensten zählt die MHH etwa den Aufbau einer Gesundheitsberichterstattung, die Einführung der Technikfolgenabschätzung und die Entwicklung der empirischen Versorgungsforschung. Auch die Patientenorientierung habe er groß geschrieben.
Von der Leyen absolvierte schon damals ein Remote-Praktikum
Von der Leyen studierte von 1980 bis 1987 an der MHH Medizin, den Magister Public Health schloss sie 2001 ab. Sie erinnerte an Schwartz als Vorbild, „Wegbereiter der Sozialmedizin und von Public Health“, als „Reformer im Gesundheitswesen“ und „Innovator“ .
Eine Begebenheit hob sie besonders hervor: Sie sei zu ihrer Zeit im Public-Health-Studiengang Mitte der 1990er Jahre schwanger geworden und hatte ein gut dreimonatiges Praktikum vor sich, „ausgerechnet im Zeitraum rund um den Geburtstermin“. Sie habe daher alles um ein Jahr verschieben wollen.
Doch Schwartz sei seiner Zeit voraus gewesen und habe ihr ein Praktikum vom Computer aus vorgeschlagen: Von zu Hause aus sei sie an einem Forschungsprojekt beteiligt gewesen, bei dem der Aufbau eines webbasierten Seminars erprobt wurde. „Es hat geklappt. Ich habe das Praktikum remote gemacht. Das Kind ist gleichzeitig heile auf die Welt gekommen“, sagte von der Leyen.
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