Medizin

Wie nah ist Deutschland an der SARS-CoV-2-Herden­immunität?

  • Dienstag, 21. Juni 2022
/freshidea, stock.adobe.com
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Wiesbaden – Eine Herdenimmunität könnte die Bevölkerung vor weiteren SARS-CoV-2-Infektionswellen schützen. Einige Medizner gehen jedoch davon aus, dass ein solcher Gemeinschaftsschutz im Fall von SARS-CoV-2 nicht erreichbar ist.

Bei einer Fortbildungsveranstalung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) hielten gestern 73 % der 400 Teilnehmenden eine klassische Herden­immunität für nicht realistisch. Hingegen gingen nur 21 % davon aus, dass ein Gemeinschaftsschutz mit einer Impfquote (3 Dosen) von mehr als 80 % erzielt werden könnte. Eine vollständige Durchseuchung fanden 5 % zielführend. Etwa die Hälfte der Teilnehmenden hatte bei der Umfrage mitgemacht, etwa 85 % waren Ärzte.

Auch der Referent Tobias Böttler vom Universitätsklinikum Freiburg war von einer klassischen Herdenimmu­nität, wie man sie etwa von den Masern kennt, im Fall von SARS-CoV-2 nicht überzeugt. Denn für ein solches Szenario müssten 2 Vorausset­zungen gelten: Virologisch benötige man einen stabilen Phänotypen bezieh­ungsweise eine stabile Virussequenz. Zudem sei eine lang anhaltende und sterile Immunität notwendig, um die Transmission zu verhindern.

„Die vorhandene Immunität in der Bevölkerung schützt nicht vor der Infektion, aber vor schweren Erkran­kungen“, sagte der Gruppenleiter der Experimentellen Forschungsgruppe im Gebiet der Hepatologie und Immunologie aus Freiburg und weiter: Wie lange die protektiven Impftiter – sowohl Antikörper als auch T-Zellen – nach einer Infektion oder Impfung erhalten bleiben, müsse noch weiter untersucht werden.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) ging im Juli 2021 noch davon aus, dass das Auftreten eines Gemeinschafts­schutzes bei COVID-19 realistisch sei und bereits beobachtet wurde. Je höher die Impfquote, desto ausge­prägter sei das Phänomen. Ob jedoch eine Schwelle realistisch sei, ab der SARS-CoV-2 eliminiert werden könne, sei zweifelhaft, hieß es damals im Epidemiologischen Bulletin.

Der forschenden Pharmaunternehmen (vfa) schreiben auf Ihrer Webseite: Eine Herdenimmunität könne nur mit Impfstoffen gelingen. Manche Wissenschaftler gingen von einer Durchimpfungsrate von 80-85% aus.

Hybride Immunität verleiht etwas besseren Schutz

Studien aus 2021 hatten darauf hingedeutet, dass eine hybride Immunität, bestehend aus Infektion und Impfung, von Vorteil sein könnte (Science 2021; DOI: 10.1126/science.abj2258).

Eine Studie mit fast 150 Teilnehmenden von Forschenden um Ulrike Protzer vom Helmholtz Zentrum München und dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIM), die im Januar 2022 in Nature Medicine (2022; DOI: 10.1038/s41591-022-01715-4) publiziert wurde, kam hingegen zu dem Schluss, dass es keinen deutlichen Unterschied machte, ob die 3. Exposition nach einer Zweifachimpfung durch Impfung oder Infektion stattfand.

Die Antikörpertiter waren in Neutralisationstests 2 Wochen nach der 3. Exposition vergleichbar hoch, sowohl für Delta als auch nach für Omikron.

„Ein kleines bisschen besser als 3 Expositionen war eine 4. Exposition, wie sich in einer Studie im New England Journal of Medicine gezeigt hat“, sagte Böttler (2022; DOI: 10.1056/NEJMoa2203965). Der Schutz vor schweren Verläufen liege hier bei 100 %.

Die Wirksamkeit (Infektion) einer früheren Infektion allein gegen eine symptomatische BA.2-Infektion betrug 46,1 % (95%-Konfidenzintervall [KI], 39,5-51,9). Zwei Impfdosen BNT162b2 ohne vorangegangene Infektion hatten eine vernachlässigbare Wirkung (95%-KI, -7,1-4,6), jedoch lag die 2. Impfung bei fast allen Personen bereits mehr als 6 Monate zurück.

Ein Booster ohne vorangegangene Infektion erhöhte die Wirksamkeit auf 52,2% (95%-KI, 48,1-55,9) und auch bei einer früheren Infektion und 2 Dosen betrug sie 55,1% (50,9-58,9).

Den besten Wert erzielten Personen mit einer früheren Infektion und 3 Dosen BNT162b2: 77,3% (72,4-81,4). Alle 5 Szenarien zeigten eine starke Wirksamkeit (>70 %) gegen schwere COVID-19-Verläufe aufgrund einer BA.2-Infektion. Ähnliche Ergebnisse wurden bei der Analyse der Wirksamkeit gegen BA.1-Infektionen und bei der Impfung mit mRNA-1273 beobachtet.

Das Fazit der Studienautoren: Die hybride Immunität, die sich aus einer früheren Infektion und einer kürzlich erfolgten Auffrischungsimpfung ergibt, verleiht den stärksten Schutz. Da die Infektion mehr Probleme als die Impfung verursache, plädierte Böttler dennoch für 4 Expositionen durch Impfung.

Den optimalen Zeitpunkt könne man noch nicht abschließend bewerten. „Erst- und Zweitimpfung sollten nah zusammenliegen, bei der 3. Dosis ist es sinnvoll 6 Monate abzuwarten“, so Böttler. Bei Immunsupprimierten wäre er wenig besorgt, dass kürzere Abstände zu einer Überexposition führen könnten.

gie

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