„Wir wollen nicht nur mit den Kapitänen sprechen, sondern auch mit den Mannschaften“

Berlin – Seit Juli 2019 ist Markus Leyck Dieken Geschäftsführer der gematik. Er möchte die gematik zum „Motor und Forum der digitalen Aufholjagd“ machen. Diesen Wandel, den der ehemalige Pharmamanager im Haus einführen will, beschreibt er im Interview mit dem Deutschen Ärzteblatt.
Deutsches Ärzteblatt (DÄ): Sie sind jetzt seit vier Monaten als Geschäftsführer bei der gematik: Was haben Sie hier vorgefunden, und wie läuft der Veränderungsprozess bisher?
Leyck Dieken: Wir deklinieren weiter, was der Bundesgesundheitsminister begonnen hat. Er hat die 51 Prozent der Gesellschafteranteile ja nicht übernommen, um den Kurs unverändert beizubehalten. Es geht darum, dass die gematik nun ihren eigenen Weg gehen kann, wie dies vielfach in Europa der Fall ist.
Für die gematik bedeutet dies, dass wir unseren Modus Operandi um 180 Grad drehen: Von einer passiven Auftragsarbeit, hin zu einer Institution, die aktiv in die Versorgung geht, um Konzeptionen festzulegen. Wir führen direkte Gespräche mit Ärzten, Apothekern, Pflegenden und anderen Beteiligten, um zu erfahren, was vor Ort wirklich gebraucht wird. Daran orientieren wir uns bei der Erstellung der Konzepte für digitale Anwendungen. Dieser fundamentale Wandel ist notwendig, damit wir überhaupt eine Chance zur digitalen Aufholjagd in Europa haben.
DÄ: Das heißt: Sie gehen in die Verbände und sprechen dabei mit den Beteiligten. Entwickeln Sie auch Projekte im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums?
Leyck Dieken: Unbedingt! Wir machen beides: In der gematik wurden noch nie so viele Gäste empfangen. Zudem werden wir Foren veranstalten und Gastgeber sein, damit die Debatten künftig bei uns stattfinden. Wir wollen nicht nur mit den Kapitänen sprechen, sondern auch mit den Mannschaften – also den direkten Anwendern in den Praxen und Kliniken. Dafür organisieren wir aktuell ein Patientenforum, das im ersten Quartal 2020 stattfinden wird, gefolgt vom Pflegeforum der gematik.
Darüber hinaus ändern wir unsere Arbeitsabläufe. Es wird keine Lastenhefte mehr geben, die monatelang entwickelt wurden. Wir entwickeln künftig Konzepte, die mehrfach betrachtet werden – und zwar nicht nur von den Gesellschaftern, sondern von allen, die das geplante Produkt betreffen wie der Industrie und Versorgern.
DÄ: Die Konzepte können dann öffentlich kommentiert werden oder entwickeln sie dazu eine weitere Plattform?
Leyck Dieken: Wir laden nicht nur die Projekte zu uns ein, wir fahren auch zu ihnen. Unser Projektteam, das sich um die Entwicklung des E-Rezeptes kümmert, steht mit vielen der aktuell wichtigen Pilotprojekte im Austausch. Vor Ort beobachten wir, welche kleinen Details notwendig sind, um das bundesweite Produkt rund werden zu lassen. Das gibt uns gleichzeitig die Autorität, von der Vielstimmigkeit der Konzepte das überzeugendste Gesamtkonzept herauszufiltern.
DÄ: Beispiel elektronisches Rezept: Das ist ja eines der Hauptprojekte, die die gematik jetzt angeht.
Leyck Dieken: Das ist ein sehr spannendes Projekt. Das E-Rezept betrifft ja die Gesamtbevölkerung. Auch für Privatversicherte wird der Nutzen sofort erfahrbar. 1,3 Millionen Rezepte werden quasi zum täglichen digitalen Erlebnis. Aktuell sind wir hier in der konzeptionellen Phase. Es soll ein wirklich digitales Rezept in mehreren Dimensionen entstehen. Wir wollen den auf dem Papier existierenden Ablauf nicht nur elektronisch abbilden, sondern darüber hinaus gehen. Wir werden dazu termingerecht liefern; die Spezifikationen für die Industrie werden Mitte 2020 veröffentlicht.

DÄ: Eine weitere Anwendung, die die gematik anbietet, ist die Kommunikationslösung KOM-LE. Gleichzeitig gibt es von der KV Telematik auch KV Connect. Braucht der Arzt beides oder wird es eine der beiden Lösungen künftig nicht mehr geben?
Leyck Dieken: Per Gesetz wurde ein vertrauenswürdiger Dienst zur Kommunikation zwischen Ärzten definiert. Wir brauchen ein bundesweites Niveau für diese Kommunikationslösungen. Wir haben KOM-LE nun technisch definiert und KV Connect wird sich diesen Spezifikationen zukünftig anpassen. Damit alle auf dieselbe technische Spielfeldhöhe kommen, ist eine Übergangszeit bis etwa 2021 geplant.
Unser Ziel ist, dass alle Angehörige von Heilberufen sich austauschen können. Für die Digitalisierung der Medizin ist das ein ganz entscheidender Schritt, der dafür sorgen wird, dass wir einen nationalen Standard bekommen. Wir müssen uns von einer regionalen hin zu einer bundesweiten Ebene bewegen. Ich bin sicher, dass der Übergang gut funktionieren wird.
DÄ: Wenn Sie von Übergangszeiten sprechen, dann heißt das, dass KV Connect in zwei Jahren nicht mehr existent ist?
Leyck Dieken: Nein. Wie bei vielen Produkten der gematik wird es keinen monolithischen Anbieter geben. KOM-LE wird eine Vielzahl von Anbietern haben, die alle diesen Standard erfüllen müssen. Ob KV Connect einer dieser Anbieter sein möchte, muss die KV Telematik entscheiden. Bisher hat die KV Connect in sechs Jahren eine überschaubare Gruppe von Mitspielenden erreicht.
Für uns ist nicht die Frage entscheidend, wer der Anbieter wird, sondern vielmehr: Wie können wir gemeinsam den Großteil aller Beteiligten motivieren, in einem bundesweiten System mitzumachen? Hier ist der Digitalisierungsgrad der Praxen wichtig. Da nehme ich auch die Industrie mehr in die Pflicht: Wie anwenderfreundlich ist die Benutzeroberfläche gestaltet? Wenn im Moment noch die Anwenderfreundlichkeit des Faxes besser ist, als die eines elektronischen Dienstes, dann müssen wir darüber sprechen.
DÄ: Die Politik will genau künftig bei diesem Thema ansetzen: Wie kann die Schnittstellenproblematik bei geschlossenen Praxissystemen gebrochen werden?
Leyck Dieken: Daran arbeiten wir. Die gematik wird künftig nur noch die Schnittstelle veröffentlichen, auf die die Produkte der Industrie aufbauen können. Damit vermeiden wir, dass eine flächendeckende Digitalisierung wegen abgegrenzter Territorien erschwert wird.
Wir brauchen Pilotregionen, aber keine Kurfürstentümer. Wir wollen Pilotprojekte ermutigen, sich national zu öffnen. Deutschland wird nur überzeugend digitalisiert werden können, wenn es eine bundesweit verfügbare Infrastruktur gibt. Daher müssen Schnittstellen offen sein. Das gilt auch schon für das E-Rezept.
DÄ: Sie wollen mit der gematik Motor und Gestalter der digitalen Aufholjagd sein – kann das die gematik überhaupt?
Leyck Dieken: Die gematik ist 15 Jahre lang ein geprügelter Hund gewesen. Sie wurde für Dinge verantwortlich gemacht, für die eigentlich die Strukturen rund um die gematik zuständig waren.
Gerade in dieser Situation ist es wichtig, dass man sich mit einem neuen Selbstverständnis ein angemessenes – ja, starkes – Rückgrat verschafft. Und das erreichen wir mit den aktuellen Foren, den Einladungen ins Haus, dem Austausch mit den Beteiligten und dem Blick über die Grenzen hinaus
DÄ: Dieses neue Rückgrat – Welche Rolle und welchen Einfluss nimmt das BMG als Mehrheitsgesellschafter ein?
Leyck Dieken: Das Ministerium stärkt uns den Rücken, da es jetzt auch ein Marktbeteiligter ist. Uns ist gemeinsam klar, dass wir nicht die einzigen sind, die Produkte anbieten, mit denen die Bürger in die Digitalisierung des Gesundheitswesens gehen. Die gematik setzt sich damit auseinander, dass es auch Möglichkeiten und Offerten an die Bevölkerung gibt, die keineswegs erst entwickelt werden müssen.
Zusätzlich wollen wir alle Gesellschafter mitnehmen. Bei mir ist die Ärzteschaft sehr in den Fokus gerückt: Zwar werden die Krankenkassen die elektronische Patientenakte beleben und bewerben. Aber nur der Arzt kann Patienten von diesem Produkt überzeugen. Wenn Ärzte bislang zu wenig Vorteile in der ePA erkennen, müssen wir das in der gematik zur Priorität machen. Das gematik-Team um die ePA hat den Fokus, mit der Ärzteschaft in den Dialog zu treten und deren Interessen einzubetten.
DÄ: Sie haben das einmal auf einer Tagung als die „Liebe zum Produkt“ bezeichnet, die die Ärzte entwickeln müssen. Wie wollen sie für mehr Leidenschaft werben?
Leyck Dieken: Ein großes Missverständnis bei den Ärzten ist oft, dass sie vor allem an die App-Oberfläche der Patienten denken. Aber: Der Arzt wird auch weiterhin seine PVS-Programme sehen. Nur findet er dort künftig Möglichkeiten, die Befunde mit seinen Patienten zu teilen und umgekehrt. Für den Arzt wird sich die Funktionalität erweitern.
Grundsätzlich müssen wir die Digitalisierung in der Medizin in einen größeren Kontext bringen: Wir leben in einer Welt der exponentiellen Wissenschaft. Das Wissen vermehrt sich rasant. Damit verändern sich Diagnosen, die Ansprechbarkeit auf Therapien. Ich glaube, dass Ärzte begeistert sein müssten, wenn sie jetzt einen digitalen Weg beginnen – auch im Interesse ihrer Patienten.
Daher ist das auch eine ethische Frage, wenn der Arzt demnächst jedem Patienten medizinisches Wissen auf dem neusten Stand der Entwicklung zufließen lassen kann. Das muss mit dem Datenschutz abgewogen werden. Ich halte es für ethisch fragwürdig, dass deutsche Bürger einige Therapien nicht erhalten, weil der Datenfluss der Daten in anderen Ländern beispielsweise bei Registern besser läuft.
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