Wissenschaftler empfehlen psychiatrische Patientenverfügungen

London/Bochum – Eine deutsch-britisch-niederländische Arbeitsgruppe hat die Vorteile von psychiatrischen Patientenverfügungen, sogenannten Odysseus-Verfügungen, untersucht. In vielen Ländern, so auch in Deutschland, gibt es diese Verfügungen bislang nicht. Das Ergebnis ihrer Recherchen und ihrer Befragungen ist unter anderem im Fachmagazin The Lancet Psychiatry erschienen (2023, DOI: 10.1016/S2215-0366(23)00221-3).
In einer Odysseus-Verfügung können Betroffene in einer Situation, in der sie einwilligungsfähig sind, festlegen, dass sie unter bestimmten Umständen eine Unterbringung in der Psychiatrie wünschen – beispielsweise wenn die Partnerin oder ein Freund ein zuvor definiertes Verhalten bemerken. In der Verfügung können Betroffene auch festhalten, welche Behandlungen sie wünschen und welche nicht.
Nach einer Literaturanalyse zu Pro- und Kontra-Argumenten zu den Verfügungen befragte das Team Betroffene, Angehörige sowie medizinisches Personal zu Chancen und Risiken und entwickelte Empfehlungen für die Implementierung der Verfügungen.
„Durch die Odysseus-Verfügung entstehen drei wesentliche Vorteile“, erläutert Matthé Scholten vom Bochumer Institut für Ethik und Geschichte der Medizin. „Sie geben den Betroffenen mehr Autonomie, können finanzielle und soziale Schäden verhindern und auch die therapeutische Beziehung und die Beziehung zu Angehörigen verbessern. Insgesamt geben Odysseus-Verfügungen Betroffenen Kontrolle über ihr Leben und ihre Behandlung“, so der Wissenschaftler.
Die Verfügungen sind aber umstritten. „Der Unterschied zu den in Deutschland etablierten Formen von Vorausverfügungen, wie Patientenverfügungen und Behandlungsvereinbarungen, besteht darin, dass Nutzer in einer Odysseus-Verfügung festlegen, in welchen zukünftigen Situationen sie gegen ihren natürlichen Willen behandelt werden wollen. Dieser Aspekt wird in der Medizinethik und in den Rechtswissenschaften kontrovers diskutiert“, heißt es in einem Beitrag der Zeitschrift Psychiatrische Praxis vom März 2022 (DOI: 10.1055/a-1696-6976).
Ein häufig genanntes Risiko ist zum Beispiel die Gefahr einer Einflussnahme durch Angehörige oder Ärzte beim Erstellen der Verfügung.
Entscheidend ist laut der Arbeitsgruppe, dass ausreichend Ressourcen für die Arbeit mit Odysseus-Verfügungen bereitstehen. Nicht nur das Aufsetzen des Dokuments müsse sorgfältig erfolgen. „Nach einer Behandlung sollten sich Betroffener, Angehöriger und Arzt zusammensetzen und bewerten, ob die Therapie so gelaufen ist, wie der Patient es sich gewünscht hatte“, so Scholten.
Die Forscher gehen davon aus, dass sich die so investierte Zeit lohnt. „Wenn man die Patienten zu Beginn einer Krise einweist, ist es wahrscheinlich, dass sie kürzer in der Klinik bleiben, als wenn man wartet, bis es eine große Krise gibt“, so der Bochumer Wissenschaftler.
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