Ärzteschaft

„Wöchentlich geänderte Vorgaben in der Pandemie können die Freude am Beruf trüben“

  • Donnerstag, 16. September 2021

Berlin – Mit Blick auf die Bundestagswahl und den Stellenwert, den Gesundheit durch die Pandemie bekommen hat, stellt sich die Frage: Was müsste eigentlich wirklich im Gesundheitswesen verändert werden?

Dazu hat das Deutsche Ärzteblatt (DÄ) 18 Expertinnen und Experten aus allen Bereichen der Gesundheitsversorgung und mit unterschiedlichen Schwerpunkten in in einer Interviewreihe befragt.

Diesmal: Antje Bergmann, Professorin am Lehrstuhl für Allgemeinmedizin an der TU Dresden, über die Zulassung zum Medizinstudium, die hausärztliche Arbeit in der Pandemie und der künftige Zugang zur Versorgung.

Prof. Dr. med. Antje Bergmann /SGAM
Prof. Dr. med. Antje Bergmann /SGAM

5 Fragen an Antje Bergmann, Professorin für Allgemeinmedizin

DÄ: Welches sind aus Ihrer Sicht die drei drängendsten Probleme im Gesundheitsbereich, die die nächste Bundesregierung als erstes angehen sollte?
Bergmann: Das jetzige System des unbegrenzten Zugangs zu allen Versorgungsebenen (24 Stunden, 7 Tage in der Woche) führt zu stetig steigenden Ausgaben. Ein funktionierendes Primärarzt­system kann diesen Fehlsteuerungen entgegengesetzt werden. Es fehlt an Eigenverantwortung der Patienten und intelligenten Anreizsystemen, eine Verbesserung der eigenen Gesundheitskom­petenz kann Ressourcen einsparen helfen. Anderenfalls werden die explodierenden Kosten nicht zu stemmen sein.

Eine Einbeziehung der an der medizinischen Versorgung aktiv Beteiligten an der politischen Diskussion zu den Themen des Gesundheitsresorts ist essentiell. Gefühlt diskutieren Wortführer, Meinungsbildner statt Ärzte, Wissenschaftler und Versorgende zu essentiellen Themen. Politische Entscheidungen sind deswegen oft praxisfern, unrealistisch und bürokratisch überbordend.

Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wer zum Medizinstudium wie zugelassen wird. Die Wich­tung des numerus clausus muss überdacht werden und sinnvolle Auswahlverfahren und mögliche andere Entscheidungskriterien (Berufserfahrung in einem medizinischen beruf bspw. Vorpraktika) sollten stärker gewichtet werden. Zudem ist die aktuell diskutierte Reform der Ärztlichen Approbationsordnung mit dem Ziel eines wirklich nachhaltig auf die tatsächliche Versorgungsrealität ausgerichteten Studiums zügig umzusetzen – das wird nicht zum Nulltarif möglich sein und eine zielgerichtete Umverteilung der Mittel innerhalb der Medizinischen Hochschulen nach sich ziehen müssen.

DÄ: Was behindert den ambulanten Praxisalltag am meisten?
Bergmann: Die Bürokratie in der eigenen Selbstverwaltung steht einer effizienten, ressourcenscho­nenden Versorgung entgegen. Beispielsweise sind ausufernde Abrechnungsregelungen aufreibend und zeitfressend. Allein in der Pandemiezeit gab es unzählige, manchmal sich wöchentlich ändernde Abrechnungsmodalitäten, die kaum einer im Überblick hat. Das kann die Freude am Beruf sehr trüben.

Wenn zudem Entscheidungen zuerst über die Medien bekannt werden, statt über die Kanäle und Informationsquellen der Ärzteschaft, werden Ärzte unglaubwürdig und geraten völlig zu Unrecht in Not.

DÄ: Wenn Sie eine/n Nachwuchsmediziner/in überzeugen müssten: Was spricht heute noch für eine Niederlassung in eigener Praxis?
Bergmann: Arzt in der eigenen Niederlassung sein, bedeutet jeden Tag selbstbestimmtes Arbeiten, flache Hierarchien, Teamarbeit. Das eigentliche Ziel, mit welchem viele in das Medizinstudium gestartet sind, ein Partner für Patienten zu sein, zu begleiten, zu behandeln, beizustehen, auch zu heilen, zu trösten, zuzuhören und Kraft zu geben, selbst dabei zu lernen – das kann in einer eigenen Praxis gut umgesetzt werden.

Am überzeugendsten jedoch ist das Kennenlernen der täglichen Arbeit in einer Praxis – aus meiner Sicht sollten in allen Facharztweiterbildungen ambulante Weiterbildungszeiten festgeschrieben sein.

DÄ: Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen im stationären Bereich?
Bergmann: Die Zusammenarbeit mit den Kollegen in den Kliniken ist oft sehr gut, weil alle unter ähnlichem Druck und Rahmenbedingungen das Optimum für den Patienten wollen. Einzelne Insel­lösungen einer noch engeren Verzahnung der sogenannten sektorübergreifenden Versorgung beweisen, es ist möglich, vor- und nachstationäre Angebote zu verbinden. Viele gesetzlich vorgeschriebene ohnehin existierende Vorgaben werden durch die Behandler mit Leben gefüllt (beispielsweise das Entlassmanagent). Wichtig ist aus meiner Sicht aber immer wieder das persönliche Gespräch, die innerärztliche Kommunikation.

DÄ: Vor dem Hintergrund steigender Behandlungsbedarfe und zugleich begrenzter Ressourcen wird zunehmend über eine stärkere Patientensteuerung – auch abseits der Notfallversorgung – diskutiert. Wie schätzen Sie die Notwendigkeit sowie mögliche Lösungsansätze ein?
Bergmann: Es ist dringend geboten, über den freien Zugang zu allen Ebenen der Versorgung nachzu­denken. Wir Hausärzte können in einem gestuften Versorgungssystem der Zukunft besser lenken, leiten und koordinieren, Spezialfachärztliche Behandlungen zum einen entlasten, zum anderen viel gezielter in Anspruch nehmen.

Dem gegenüber steht eine „all inclusive-Mentalität“ der Patienten, die für ihren Krankenkassenbeitrag möglichst „gefühlt“ das Beste zu jeder Zeit und sofort für sich beanspruchen. Das ist auf lange Sicht weder bezahlbar noch sinnvoll. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die bessere Verzahnung stationärer und ambulanter Ebenen. Es wird in der Zukunft viel mehr ambulant angeboten und durchgeführt werden (müssen).

aha

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