Ärzteschaft

70 Jahre Selbstverwaltung: „Geben Sie uns die Freiheit zurück, die wir brauchen“

  • Dienstag, 23. September 2025
/David Ausserhofer
/David Ausserhofer

Berlin – Vor 70 Jahren hat der Gesetzgeber die Selbstverwaltung auf die Schiene gesetzt und ihr Verantwortung für die Gesundheitsversorgung übertragen. In einem Festakt der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) im Französischen Dom in Berlin gab es heute aber nicht nur Grund zum Feiern. Mit Sorge betrachtet wurde die zunehmende Gängelung durch die Politik.

KBV-Chef Andreas Gassen bemängelte – bei Beginn der Feierlichkeiten zu „70 Jahre Selbstverwaltung“ von KBV und KZBV, die mit diversen Vergleichen zu 70 Jahre Disneyland gespickt war – politische Eingriffe in die autonome Gestaltungsfreiheit. Das kenne man „leider auch in der ärztlichen Selbstverwaltung, gerade in der jüngeren Vergangenheit“, so Gassen.

Dabei sei das Modell der ärztlichen Selbstverwaltung in dieser Form ziemlich einmalig und offenkundig nicht „von gestern“, denn es gebe immer wieder Länder, die Interesse daran zeigten, das Modell zu adaptieren. „Kein Wunder, denn eigentlich ist es ein bestechendes politisches Konzept“, so der KBV-Chef.

Die Selbstverwaltung entlaste den Staat im Sinne der Subsidiarität; sie sei nah dran an den Menschen und Themen, für die sie zuständig sei und biete dadurch eine besondere Expertise. Und sie genieße durch Wahlen derer, die sie vertrete, ein hohes Maß an demokratischer Legitimation.

KBV-Chef Andreas Gassen /David Ausserhofer
KBV-Chef Andreas Gassen /David Ausserhofer

Auch aus gesellschaftlicher Sicht spricht aus Sicht von Gassen sehr viel dafür, so grundlegende und relevante Dinge wie die Gesundheitsversorgung weder ausschließlich dem freien Markt noch zentralstaatlicher Organisation zu überlassen.

Er sprach unter anderem auch an, dass Horst Seehofer, ab 1992 Bundesgesundheitsminister, die Umgestaltung des ostdeutschen Gesundheitswesens später als eine der größten Leistungen der deutschen Sozialgeschichte bezeichnet habe. „Leider waren die dann unter ihm erfolgten gesundheitspolitischen Weichenstellungen in der Folgezeit nicht hilfreich“, so der KBV-Chef.

Globalbudget und Kostendämpfungsgesetze

Denn schon 1992 seien das Globalbudget und diverse Kostendämpfungsgesetze für die ambulante Versorgung eingeführt worden. „Dieser Dauerrabatt wird den Praxen weiterhin abgezogen – in Summe mittlerweile ein hoher zweistelliger Milliardenbetrag an nicht gezahlten Honoraren – ,vielleicht in der neuen Diktion auch eine Art Sondervermögen“, so der KBV-Vorstandsvorsitzende.

Gassen betonte, was man über die Jahrzehnte und insbesondere in der jüngeren Vergangenheit beobachten könne, sei eine „stetige und ungesunde Zunahme an Reglementierung und Regulierung in der vertragsärztlichen und vertragspsychotherapeutischen Versorgung und damit der Selbstverwaltung“. Das sei greifbar im wahrsten Sinne des Wortes in Form eines stetig im Umfang gewachsenen und mittlerweile völlig aufgeblähten Fünften Sozialgesetzbuches.

Martin Hendges, Vorstandsvorsitzender der KZBV /David Ausserhofer
Martin Hendges, Vorstandsvorsitzender der KZBV /David Ausserhofer

In die gleiche Kerbe schlug der Vorstandsvorsitzende der KZBV, Martin Hendges, der ebenfalls die Angriffe der Politik auf die Selbstverwaltung bemängelte. Es würde den Rahmen vollkommen sprengen, die zahlreichen Gesetze anzusprechen, durch den die ursprünglichen Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume der Selbstverwaltung eingeschränkt worden und durch „gesetzliche Regeln substituiert“ worden seien, sagte er.

Hendges monierte auch, dass Körperschaften in der vergangenen Legislatur als Lobbyorganisationen bezeichnet worden seien. Es sei aber „umso erfreulicher“, dass die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) auf den Dialog mit der Selbstverwaltung setze. Warken hatte ihre Teilnahme am Festakt und auch an einer Abendveranstaltung aber abgesagt. Am Abend soll sie durch den Staatssekretär Tino Sorge (CDU) vertreten werden.

Glaube an die Stärke der Selbstverwaltung

Der KZBV-Chef betonte auch, dass die Selbstverwaltung ein Erfolg sei. „Alle Konzepte für die Prävention von zahnärztliche Erkrankungen kamen aus der Selbstverwaltung heraus, es war kein Auftrag der Politik. Wir glauben an die Stärke der Selbstverwaltung, wir verstehen uns als Gestalter, nicht als Verwalter.“

„Natürlich sind wir als Körperschaften an der auch von den Praxen gefühlten übermäßigen ,Kontrollitis' nicht unbeteiligt, im Gegenteil“, räumte Gassen heute ein. Der Grund sei aber, dass man umsetzen müsse, was die Politik vorgebe. „Und diese Vorgaben werden immer kleinteiliger, so dass das entscheidende Wörtchen ,Selbst' in Selbstverwaltung immer mehr zur Makulatur wird“, monierte er.

Er appellierte an Warken: „Geben Sie uns die Freiheit zurück, die wir brauchen.“ Das Prinzip der Selbstverwaltung sei ein Ausdruck des Vertrauens der Politik in die Kräfte der Selbstregulierung – aber es sei auch ein Versprechen, diesen freie Hand zu lassen.

Gassen fordert ein klares politisches Bekenntnis zur Selbstverwaltung ein – und ein gemeinsames Verständnis, dass gesetzliche Regelungen zurückhaltend ausgestaltet sein müssen, damit die Selbstverwaltung ihre Stärke entfalten und wirken lassen könne.

Man wolle „eben nicht nur verwalten, sondern Versorgung gestalten“ – mit Lösungen, die im wahrsten Sinne des Wortes praxis- und patientennah und nicht am politischen Reißbrett entstanden seien. „Wir sind die Experten für Versorgung“, so Gassen.

Die sprichwörtliche Praxis um die Ecke sei für die Menschen ein hohes Gut, das hierzulande zur gesellschaftlichen Grundausstattung gehöre, und das wohl niemand missen wolle. In der aktuellen gesundheitspolitischen Debatte sei allerdings fast immer von den Krankenhäusern die Rede. „Aber der tagtägliche Löwenanteil der Versorgung findet in den Praxen der Niedergelassen statt“, stellte Gassen klar. „Das sollten die politisch Verantwortlichen nie aus dem Blick verlieren.“

Gassen zeigte sich überzeugt, dass die Selbstverwaltung kein Konzept „von gestern“ ist, trotz ihrer 70 Jahre. Natürlich müsse man auch selbstkritische Fragen stellen, etwa im Hinblick darauf, wie wir den ärztlichen, zahnärztlichen und psychotherapeutischen Nachwuchs nicht nur für die Niederlassung, sondern auch für berufspolitisches Engagement gewinnen könne, damit die Selbstverwaltung lebendig bleibe. Voraussetzung sei, dass die Niederlassung eine attraktive Form der Berufsausübung bleibe oder wieder werde.

Für Umbau keine Legitimation

Auf die Herausforderungen der Selbstverwaltung hatte der ehemalige Bundessozialrichter Ulrich Wenner heute verwiesen. „Selbstverwaltung ist ein sehr besonderes System, dass man seit der Kaiserzeit beobachten kann. Seitdem wird Sozialversicherung nicht ohne Selbstverwaltung gedacht“, sagte er. Er sehe auch „die Grenzen der Selbstverwaltung“.

Ulrich Wenner, ehemaliger Richter am Bundessozialgericht /David Ausserhofer
Ulrich Wenner, ehemaliger Richter am Bundessozialgericht /David Ausserhofer

„Mein Rat an Sie: wenn der Sozialstaat zurück gefahren werden soll, dann kann das nicht die Selbstverwaltung selbst machen und auf den Weg bringen. Denn dafür fehlt ihnen die Legitimation“, sagte er in seinem Vortrag zum Spannungsfeld ärztlicher Körperschaften zwischen staatlicher Regulierung und Selbstverwaltung. Solle es einen anderen Sozialstaat geben, dann müsse das die „Politik schon selber tun“.

Deutliche Kritik gab es von Wenner auch an den Versuchen des Gesetzgebers, über Rechtsverordnungen die Regelungskompetenzen auszuhebeln. „Wenn man komplexe Regelungen binnen drei Monaten verlangt, dann wollte man die Selbstverwaltung nicht wirklich beteiligen.“ Aus seiner Sicht „lebt die Selbstverwaltung vom Diskurs“. Denn die Selbstverwaltung habe „die Expertise und den Kontakt von Betroffenen“.

Wilm Quentin, Professor für Planetary and Public Health an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth, verwies auf die großen Herausforderungen der Gesundheitssysteme in Europa. Dazu gehörten Alterung, Krankheitslast, Klimawandel und Pandemien.

Er warf auch einen Blick auf die europäische Gesundheitspolitik, bei der im vergangenen Jahr insgesamt die Reformbereiche Finanzpolitik sowie Reformen um die Koordination der Versorgung im Mittelpunkt gestanden hätten.

Dabei hätten viele EU-Länder bereits eine Reihe von Steuerungselementen in ihre Systemen integriert, so Quentin. Seit 2018 sind dem Wissenschaftler zufolge EU-weit 26 Gesetzte zur Primärversorgung und 16 zur Integration von anderen Fachkräften in den jeweiligen Staaten verabschiedet worden.

Aus Sicht der Ärzteschaft und Zahnärzteschaft profitieren die Menschen in Deutschland insgesamt von der besonderen Sachnähe der Selbstverwaltung zum Versorgungsgeschehen. Die Selbstverwaltung sei „Ausdruck von Gemeinwohlorientierung und zudem ein Schutz gegen staatliche Überzentralisierung“, hieß es in einer Mitteilung von KBV und KZBV.

„Das Prinzip einer unabhängigen Berufsausübung vor dem Hintergrund einer eigenständigen Selbstverwaltung ist grundlegend für eine freie Gesellschaft“, sagte Gassen darin. In Deutschland stützten daher zwei Säulen den hohen Standard des Gesundheitssystems: „Unabhängigkeit und Expertise“.

Gassen machte deutlich, dass ärztliche und psychotherapeutische Entscheidungen über die Behandlung von Patienten weisungsunabhängig fallen würden. „Auf diese Weise entsteht ein starkes und sensibles Vertrauensverhältnis, das es zu schützen gilt“, betonte Gassen.

Elementare Voraussetzungen dafür sei das Prinzip der freiberuflichen Berufsausübung – vornehmlich in inhabergeführten Praxen – und eine funktionierende Selbstverwaltung. Dafür setze sich die KBV gemeinsam mit ihren Selbstverwaltungspartnern ein.

„Seit sieben Jahrzehnten zeigen wir erfolgreich: Die Selbstverwaltung ist krisenfest, verantwortungsbewusst und versorgungsnah“, sagte auch Hendges in der Mitteilung. In dieser Zeit habe man eine Vielzahl von Versorgungskonzepten aus dem Berufsstand heraus entwickelt und so als Selbstverwaltung einen zentralen Beitrag zur Patientenversorgung geleistet.

„Mit unserem auf Prävention ausgerichteten Versorgungsansatz haben wir die Mundgesundheit der Bevölkerung in den vergangenen Jahren stetig und nachhaltig verbessert“, erklärte Hendges. Es sei gelungen, den Anteil an den GKV-Gesamtausgaben für vertragszahnärztliche Leistungen – trotz Ausweitung des Leistungskatalogs – deutlich zu reduzieren.

Praxen sind das Fundament

Das Fundament für diesen Erfolg bilden aus Sicht der KZBV die inhabergeführten Praxen. Die KZBV will sich auch in den kommenden Jahrzehnten dafür einsetzen, Niederlassung und Freiberuflichkeit zu stärken, um die zahnmedizinische Versorgung zukunftsfest zu machen.

Sowohl KBV als auch KZBV betonten, die Selbstverwaltung arbeite mit Nachdruck daran, die ambulante (zahn-)medizinische Versorgung flächendeckend zu erhalten. Umso wichtiger sei es, sich auch bei der zukünftigen Ausgestaltung des Gesundheitssystems auf die Werte der Selbstverwaltung zu besinnen, so die Vorsitzenden.

Sie appellierten an die Politik, gemeinsam weiterhin Verantwortung zu übernehmen, die Strukturen nachhaltig zu stärken und der Selbstverwaltung somit die notwendige Freiheit für ein gerechtes, menschliches und demokratisch stabiles Gesundheitswesen zu geben.

Zugleich warnen Gassen und Hendges, dass jede Schwächung der Selbstverwaltung am Ende immer zulasten der Versorgung geht. Um die Selbstverwaltung und die mit ihr verbundenen Werte zu bewahren, seien verlässliche Rahmenbedingungen, die es erlauben, die Menschen hierzulande ohne überbordende Regulierung zu versorgen, essenziell. Nur ein klares, uneingeschränktes Bekenntnis zu einer dezentralen Gesundheitsversorgung sichere den Schutz der flächendeckenden hochwertigen (zahn-)medizinischen Versorgung.

may/bee/mis

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