Ärzte ohne Grenzen vergleicht Explosionsfolgen mit Bürgerkrieg im Libanon

Paris – Nach der Explosionskatastrophe in Beirut hat die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen die Situation im Libanon mit den humanitären Auswirkungen des libanesischen Bürgerkriegs verglichen. Mehrere Hilfsorganisationen riefen zu Spenden für den Libanon auf.
Angesichts der rund 300.000 obdachlos gewordenen Menschen und der Angst vor Nahrungsmittel- und Medikamentenknappheit liege nach der Behandlung der Verletzten die nächste Priorität in der Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Unterkünften für die Bedürftigen, sagte der Präsident von Ärzte ohne Grenzen in Frankreich, Mego Terzian.
„Wir haben während des Libanonkrieges schwierige und ähnliche Erfahrungen gemacht", sagte er. Bombenangriffe auf Benzinlager in der Nähe des Hafens während des Krieges von 1975 bis 1990 hätten „ähnliche Szenen hervorgerufen“ wie die Explosionen.
In Beirut waren am vergangenen Dienstagabend 2.750 Tonnen beschlagnahmtes und ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen gelagertes Ammoniumnitrat detoniert. Nach jüngsten Angaben der Behörden wurden dabei mindestens 153 Menschen getötet und mehr als 5.000 weitere verletzt. Dutzende Menschen werden noch vermisst.
Laut Terzian wurden auch Lagerhallen im Hafen für Medikamente und Impfstoffe bei den Explosionen beschädigt. Auch drei Krankenhäuser im Zentrum Beiruts, darunter eines mit 1.100 Betten, wurden beschädigt. „Das größte Dialysezentrum des Landes wurde vollständig zerstört“, sagte Terzian.
Die libanesischen Rettungskräfte, insbesondere diejenigen mit Erfahrung aus dem Bürgerkrieg, hätten jedoch gute Arbeit beim Umgang mit den Verletzten in den überlasteten Krankenhäusern geleistet, sagte der Präsident von Ärzte ohne Grenzen.
Die Hilfsorganisationen des Bündnisses Aktion Deutschland Hilft verglichen die Lage in Beirut mit Bildern, die „wir sonst von großen Naturkatastrophen kennen“. Die Situation der 300.000 obdachlos gewordenen Menschen sei so, „als hätte die gesamte Bevölkerung von Bonn von heute auf morgen kein Dach mehr über dem Kopf“, erklärte Geschäftsführerin Manuela Roßbach.
Krankenhäuser weiter übelastet
Die Krankenhäuser in der libanesischen Hauptstadt seien – auch wegen der Coronapandemie – völlig überlastet und müssten Verletzte zum Teil zurückweisen. Die Helfer vor Ort bemühten sich nach Kräften, die medizinische Versorgung der Verletzten zu bewältigen. Einige Hilfsorganisationen des Bündnisses schickten nach Anfragen aus dem Libanon weitere Helfer aus Deutschland.
Allerdings seien die langfristigen Folgen der Katastrophe noch gar nicht zu überblicken. Der seit Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise steckende Libanon ist unter anderem von Lebensmittelimporten aus dem Ausland abhängig. Angesichts des zerstörten Hafens, der als wichtiger Umschlagpunkt für Importe diente, werde es zu Lebensmittelengpässen und steigenden Preisen kommen, warnte Roßbach.
Offiziellen Angaben zufolge leben inzwischen mehr als 45 Prozent der Libanesen unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 35 Prozent. Ständige Strom- und Wasserausfälle machen der Bevölkerung das Leben schwer. Die Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Medico International bezeichnete die Explosion in Beirut deshalb auch als „Katastrophe mit Ansage“.
Das herrschende politische System bedrohe Leib und Leben der Bevölkerung, sagte der Nahost-Koordinator von Medico International, Till Küster. Die nun anlaufende Hilfe müsse daher die Zivilgesellschaft unterstützen.
Arbeit aufgenommen
Unterdessen haben auch die Einsatzkräfte aus Deutschland ihre Arbeit in dem Katastrophengebiet aufgenommen. Ein Team von 50 Mitarbeitern des Technischen Hilfswerks (THW) aus Deutschland begann gestern ihre Mission in der libanesischen Hauptstadt, wie die Zentrale der Organisation in Bonn mitteilte. Auch eine Korvette sowie ein Flugzeug der Bundeswehr kamen gestern Nachmittag in Beirut an, wie ein Bundeswehrsprecher mitteilte.
Die THW-Experten würden nun erste Einsatzstellen sondieren und die deutsche Botschaft unterstützen, teilte die Zentrale in Bonn mit. 46 Kräfte aus der Schnell-Einsatz-Einheit Bergung Ausland (Seeba) sollen den Angaben zufolge mit vier Suchhunden und präzisem Gerät in den Trümmern Verschüttete suchen. Das Seeba-Team werde von vier Kräften der International Search and Rescue (Isar Germany) unterstützt.
Auch Einsatzkräfte der Bundeswehr erreichten nach Angaben eines Sprechers gestern Beirut. Die Korvette „Ludwigshafen am Rhein“ liege nun zwölf Seemeilen vor der Stadt. Ein Erkundungsteam sei zudem gegen 14 Uhr in Beirut gelandet. Ein schnell verlegbares Luftrettungszentrum des Sanitätsdienstes der Bundeswehr sei in Alarmbereitschaft versetzt worden. Das mobile Lazarett könnte demnach in weniger als 96 Stunden in Beirut eingesetzt werden.
Die EU hatte bereits vorgestern mehr als hundert speziell ausgebildete Einsatzkräfte und medizinisches Gerät in den Libanon entsandt. Auch die US-Armee schickte gestern drei Flugzeugladungen mit Wasser, Nahrungsmitteln und medizinischem Material in den Libanon.
Als erster ausländischer Staatschef reiste Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nach Beirut. Bei einer rund 45-minütigen Visite im schwer getroffenen christlichen Stadtviertel Gemmayseh forderte gestern eine aufgebrachte Menschenmenge die Unterstützung des Staatschefs zum Sturz der libanesischen Regierung. „Helfen Sie uns!“ und „Revolution!“, skandierten die Menschen. Viele riefen auch: „Das Volk will den Sturz des Regimes!“
Macron forderte Libanons Regierung zu Reformen, zum Kampf gegen Korruption und insgesamt zu einem „Systemwechsel“ auf. Zugleich warb er um internationale Hilfe für das Land.
Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) forderte den Libanon angesichts der Katastrophe dazu auf, „entscheidende Reformen“ anzugehen. Verhandlungen zwischen dem IWF und dem Libanon über Hilfen wegen der Finanzkrise des Landes seit Mai waren bisher nicht vorangekommen.
Zahlreiche weitere Regierungen boten ihre Hilfe an. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sicherte die Unterstützung Deutschlands zu. Die Bundesregierung stellte unter anderem eine Million Euro für Soforthilfe des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in Beirut zur Verfügung. Die Libanesen „benötigen dringend Hilfe von außen“, sagte DRK-Regionalleiter Ulrich Wagner der ARD.
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