Ärzte werden immer häufiger mit Selbstoptimierungswünschen konfrontiert

Köln/Berlin – Mit Sorge beobachtet die Ärztekammer Nordrhein den Trend, dass körperliche oder geistige Selbstoptimierung an breiterer Akzeptanz und an Normalität gewinnt – auch und gerade in der jüngeren Generation.
Das führe zu einer zunehmenden Anzahl von entsprechenden Behandlungen und Operationen ohne medizinische Notwendigkeit und einer gewissen „Bagatellisierung“, warnte Kammerpräsident Rudolph Henke gestern beim Symposium „Update Ethik“ der Ärztekammer Nordrhein, das sich mit den ethischen und juristischen Implikationen der Selbstoptimierung beschäftigte.
„Ein Problem ist sicher auch, dass sich die sogenannte Schönheitschirurgie außerhalb des gesetzlich geregelten Weiterbildungsrechts der Ärzteschaft entwickelt hat und es für sie keine öffentlich-rechtliche Qualifikation der Ärztekammern gibt“, analysierte Henke.
Die Ärzteschaft müsse sich fragen, wie sie angesichts einer öffentlichen Diskussion über misslungene Schönheitsoperationen mit geschädigten Menschen mit dieser Situation umgehe. „Die Diskussion ist nicht neu, aber sie wird gefühlt immer mehr zum gesellschaftlichen Thema“, meinte der Kammerpräsident.
Einen Beitrag zur Sensibilisierung der Ärzteschaft wollte das gestrige Symposium leisten, an dem mehr als 500 Ärztinnen und Ärzte teilnahmen. Bereits 2019 hatte die Ärztekammer Nordrhein eine Handreichung zu „Schönheitsoperationen/Ästhetischen Behandlungen“ mit einer Checkliste für Patientinnen und Patienten herausgegeben.
„Diese Informationen hinterfragen die Motivation des Betroffenen und klären über fälschliche Annahmen und unrichtige Informationen auf, die zum Beispiel auch durch die sozialen Medien gestreut werden“, so Henke. Es werde über Qualifikationen, die Aufklärungspflicht, Sorgfaltspflicht als ärztliche Grundpflicht und beispielsweise auch gewerbliche Anbieter informiert und sensibilisiert.
Unklarheiten bezüglich der Schönheitschirurgie bestehen nach Wahrnehmung der Kammer jedoch nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch innerhalb der Ärzteschaft.
Bernd Zimmer, Vizepräsident der Ärztekammer Nordrhein, stellte klar: „Die plastische, rekonstruktive und ästhetische Chirurgie befasst sich mit der Wiederherstellung und Verbesserung von Körperformen und sichtbar gestörter Körperfunktionen mit medizinischer Indikation.“ Die Schönheitschirurgie als Wunschmedizin hingegen befasse sich mit der Veränderung von Körperformen – ohne dass eine medizinische Notwendigkeit gegeben sei.
Der Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aaachen, Dominik Groß, spezifizierte die „Wunscherfüllende Medizin“ als ärztliche Maßnahmen und Eingriffe, die auf lediglich Wunsch durchgeführt würden. Für diese bestünde keine medizinische Indikation und sie hätten auch keinen kurativen Ansatz. „Man sollte daher auch nicht von Patienten, sondern von Kunden beziehungsweise Klienten sprechen“, erläuterte er.
Ziele der wunscherfüllenden Medizin seien die Verbesserung, also das Enhancement von Form und Funktion bestimmter Körperteile aus der Sicht des Klienten oder deren gezielte Veränderung. Als ein gesellschaftliches Phänomen, das zunehmend von der Bevölkerung medizinisch definiert werde, beschrieb Groß die „Medikalisierung“. Mehr und mehr würden eigentlich physiologische Alterserscheinungen als behandlungsbedürftig angesehen und in den ärztlichen Zuständigkeitsbereich gerückt.
„Wir machen da schlimme Beobachtungen“, sagte Zimmer. Bekannt würden unseriöse Schönheitsoperationen durch am Wochenende aus dem Ausland eingeflogene Ärzte in dubiösen Kosmetikstudios. „Eine Nachversorgung ist dann meist nicht gesichert. Das ist ein Verstoß gegen das geltende Recht.“
Unabdingbar zu beachten seien auch bei der Schönheitschirurgie beispielsweise die ärztliche Eigenverantwortlichkeit, ethische Grundsätze, der persönliche Kontakt, die ärztliche Sorgfaltspflicht, die Aufklärungspflicht und die Dokumentationspflicht sowie das Verbot berufswidriger Werbung, so Zimmer.
In allen Situationen seien Ärztinnen und Ärzte nach der Berufsordnung gesetzlich als auch vertraglich zur gewissenhaften Berufsausübung verpflichtet, betonte der Vizepräsident. Der ärztliche Berufsauftrag verbiete es, Methoden unter missbräuchlicher Ausnutzung des Vertrauens, der Unwissenheit, der Leichtgläubigkeit oder Hilflosigkeit von Patientinnen oder Patienten anzuwenden.
Enorme Reichweite
Die Berliner Soziologin Anja Röcke bestätigte die Beobachtungen der Kammer: Selbstoptimierung sei zwar kein neues Phänomen, aber noch nie zuvor habe es sie in dieser umfassenden Form und mit dieser gesellschaftlichen Reichweite gegeben.
„Dies liegt maßgeblich am Ineinandergreifen von bestimmten ökonomischen, kulturellen und technischen Entwicklungen“, analysierte sie. Zudem spiele neben individuellen Faktoren der konkrete institutionelle Kontext, wie beispielsweise der Arbeitsplatz eine wichtige Rolle dafür, ob Selbstoptimierung als Handlungsstrategie von den Menschen gewählt werde.
„Leistungsdruck allein erklärt nicht das Vorhandensein von Selbstoptimierung“, meinte sie. Aber er sei in unserer Gesellschaft ein wichtiger Erklärungsfaktor. Nicht zu verlässigen als Faktoren seien jedoch das immer größere Wissen zu körperlichen Prozessen und die größere Verbreitung von Technik. „Die zunehmend digitale Infrastruktur macht Selbstoptimierung einfach, oft geschieht das auch spielerisch“, erläuterte sie.
Für Jutta Liebau, Chefärztin der Klinik für Plastische und Ästhetische Chirurgie am Florence-Nightingale-Krankenhaus in Düsseldorf, ist angesichts der zunehmenden Selbstoptimierungswünsche die Indikationsstellung wichtig. In einigen Fällen seien Korrekturen angezeigt, beispielsweise nach Tierbissen oder Brandverletzungen. „Man muss aber als Behandler auch ,nein‘ sagen können“, betonte sie.
Zu ihrem Bedauern wird in der Öffentlichkeit die plastische Chirurgie zu häufig auf ästhetische Operationen reduziert. „Die vollumfängliche Vertretung unseres Faches ist auch weiterhin ein zentrales Anliegen“, sagte sie. Es gebe vier Säulen: die rekonstruktive Chirurgie, die Handchirurgie, die Verbrennungschirurgie und die ästhetische Chirurgie.
Die Inhalte der Plastischen und Ästhetischen Chirurgie müssten in der Bevölkerung so transportiert werden, dass Patientinnen und Patienten in ihrer Entscheidungsfindung unterstützt würden, ohne bei ihnen einen Bedarf oder überhöhte Erwartungen zu wecken.
Über eine andere Form der Selbstoptimierung, das Hirndoping, berichtete Andreas Franke von der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit. Hirndoping bezeichne den Missbrauch einer Subkategorie von Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung, erläuterte er und nannte insbesondere verschreibungspflichtige Medikamente, wie (Psycho-) Stimulantien, Antidementiva und Antidepressiva.
Zum Einsatz kämen aber auch iillegale Amphetamine, Methamphetamin und Kokain. Gesund Menschen nutzten ein solches pharmakologisches (Neuro-)Enhancement, die eigene kognitive Leistungsfähigkeit (Vigilanz, Konzentration, Gedächtnis, Stimmung) zu verbessern, und zwar ohne dass eine medizinische Notwendigkeit dafür vorlege. Studien zeigten, dass gerade auch unter Ärzten der Einsatz weit verbreitet sei.
„Wir sollten als Ärzte nicht nur über Menschen, die sich selbst optimieren, reden, sondern uns auch als Teil von ihnen betrachten“, mahnte Stefan Meier vom Universitätsklinikum Düsseldorf an. Zwar sei das allererste, was ihm spontan zum Thema Selbstoptimierung in den Kopf kam, die Situation von „den anderen“ gewesen.
Doch auch die Ärzteschaft lebe in einer leistungsfördernden und leistungsfordernden Welt, die sich zunehmend einer Vermessung des Selbst hingebe und jede und jeder könne ein Kandidat für selbstoptimierende Maßnahmen sein.
„Wenn ,besser leben‘ gesellschaftlich, aber auch im ärztlichen Tun vor allem die Wiederherstellung und Beibehaltung eines aktiven, geistig und körperlichen fitten Menschen ist, warum sollte man dann nicht auch hingehen und Selbstoptimierungsangebote annehmen?“, fragte er.
Wenn das Ziel vieler ärztlicher Bemühungen vor allem die Vermeidung von Seneszenz und ,Bedürftigkeit‘ sei, wären dann nicht sogar individuelle Initiativen zur Selbstoptimierung sogar zu fordern? Für Meier ist das Thema Selbstoptimierung insgesamt vor allem eine Frage des Menschbildes, das es zu diskutieren gelte – gerade auch in der Medizin.
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