Ärzteschaft warnt vor gesetzlicher Neuregelung der Suizidbeihilfe im „Hauruckverfahren“

Berlin – Mit Unverständnis und deutlicher Kritik reagierten Ärzteschaft und ärztliche Fachgesellschaften heute auf eine kurzfristig für die nächste Woche anberaumte Schlussabstimmung über eine Neuregelung der Suizidbeihilfe im Bundestag.
Bundesärztekammer (BÄK), das Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro), die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) raten dringend davon ab, eine solch weitreichende Entscheidung für die betroffenen Menschen sowie für die Gesellschaft „im Hauruckverfahren“ durch das Parlament zu bringen.
Dort soll noch kurz vor der Sommerpause, konkret am Donnerstag in der kommenden Woche (6. Juli), innerhalb von 90 Minuten über eine neue deutsche Gesetzgebung zur Suizidbeihilfe entschieden werden.
„Eine Befassung dieser Art ist für das Thema und diese wichtige gesellschaftspolitische Frage völlig unangemessen“, sagte heute der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt. „Wir sehen überhaupt keine Eilbedürftigkeit und überhaupt keine Notwendigkeit, das jetzt in Hektik zu tun.“ Momentan fehle der Debatte die Ernsthaftigkeit und der nötige Tiefgang.
Den Abgeordneten liegen seit zwei Wochen nur noch zwei statt drei Gesetzentwürfe zur Abstimmung vor. Denn am 13. Juni haben die interfraktionellen Gruppen um die Grünen-Politikerin Renate Künast und die FDP-Politikerin Katrin Helling-Plahr, die sich in den vergangenen beiden Jahren für liberale Regelungen bei einer Neuregelung der Suizidbeihilfe einsetzten, ihre Gesetzespläne zusammengeführt und einen gemeinsamen neuen Gesetzentwurf vorgestellt.
Mit diesem wollen sie offensichtlich bei der namentlichen Abstimmung im Bundestag ihre Chancen gegenüber den Anhängern einer restriktiveren Linie um den SPD-Politiker Lars Castellucci erhöhen, die sich für eine strafrechtliche Regelung der Suizidbeihilfe einsetzen.
Nötig geworden war eine Neureglung der Suizidbeihilfe durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020, das ein seit 2015 bestehendes Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe gekippt hatte, da es das Recht des Einzelnen auf selbstbestimmtes Sterben verletzte.
Vor einer Abstimmung über eine neue gesetzliche Regelung halten die Ärztevertreter jedoch eine ausführliche Befassung des Parlaments mit den neugefassten Gesetzentwürfen sowie eine gesellschaftliche Debatte über die Regelung des Zugangs zum assistierten Suizid für notwendig.
Debatte abgebrochen
Diese sei durch die Pandemie unterbrochen worden, sagte Susanne Johna, Vizepräsidentin der Bundesärztekammer. „Sie muss erst erneut angestoßen werden, bevor das Parlament eine Entscheidung treffen kann.“ Von entscheidender Bedeutung seien Hilfsangebote für suizidgefährdete Menschen und ein „nationales Suizidpräventionsprogramm, das den Namen verdient“.
Vor einer Regelung zur Suizidbeihilfe müsse zunächst die Suizidprävention gesetzlich gestärkt werden, betonen Bundesärztekammer, wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften und das Nationale Suizidpräventionsprogramm.
Deutlich distanzierten sich Ärzteschaft und die Fachgesellschaften vom neuen gemeinsamen Gesetzentwurf der Parlamentariergruppe um die Abgeordneten Katrin Helling-Plahr und Renate Künast. Er würde einer gesellschaftlichen Normalisierung des Suizides Vorschub leisten und bringe zudem für Ärztinnen und Ärzte erhebliche strafrechtliche Risiken mit sich. „Ich würde nicht empfehlen, sich an seiner Umsetzung zu beteiligen“, betonte Reinhardt.
„Der Gesetzentwurf wird der Komplexität von Suizidgedanken und Suizidhandlungen nicht gerecht“, erläuterte der BÄK-Präsident. Nur eine einzige informierende Beratung und eine Wartezeit von lediglich drei Wochen, bevor ein Suizidmittel verschrieben und ein assistierter Suizid ermöglicht werden könne, reichten nicht aus, um die Freiverantwortlichkeit der Suizidentscheidung sicherzustellen. Dies gelte umso mehr, weil die Einbeziehung psychiatrischer und psychotherapeutischer Kompetenz in dem Entwurf nicht verbindlich vorgegeben werde.
Wie wichtig dies jedoch eigentlich wäre, verdeutlichte Andreas Meyer-Lindenberg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde: „Im Jahr 2021 starben über 9.000 Menschen in Deutschland durch Suizid – die meisten im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung“, sagte er.
Nach seiner Erfahrung seien sehr suizidale Menschen aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung häufig nicht in der Lage, die Entscheidung zum Suizid tatsächlich frei und selbstbestimmt zu treffen. Für sie fehlten in dem neuen zusammengeführten Entwurf Schutz- und Hilfsangebote. Die von Helling-Plahr und Künast propagierte „ergebnisoffene Beratung“ sei nicht zielführend.
„Diese Menschen brauchen Unterstützung und müssen konkret Hilfsangebote aufgezeigt bekommen“, erklärte er. Sie benötigten oft medizinische Hilfe und müssten vor dem irreversiblen Schritt eines Suizides effektiv geschützt werden. Die DGPPN sehe dafür im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zwei Dinge als zentral an: die verlässliche, fachärztliche Beurteilung des freien Willens und die unmittelbare Bereitstellung von Hilfen, wenn ein Suizidwunsch nicht auf freiem Willen beruht.
„Ein effektives Schutzprogramm muss auf den Personenkreis der Suizidwilligen zugeschnitten sein“, betonte auch Reinhard Lindner vom Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland. Die gesetzlich finanzierten Beratungsstellen, die in dem Entwurf von Helling-Plahr und Künast vorgesehen seien, würden Menschen in suizidalen Krisen nicht helfen, zu einer freiverantwortlichen und selbstbestimmten Entscheidung zu kommen. „Beratungen können nicht ergebnisoffen sein, wenn sie in einem Kontext zur Suizidhilfe stattfinden”, erläuterte er.
Wenn es künftig leichter sein sollte, sich über einen festgelegten Regelungsweg assistiert zu suizidieren, als Hilfe und Unterstützung zum Weiterleben zu erhalten, werde die Möglichkeit zu einer selbstbestimmten Entscheidung über das eigene Leben eingeschränkt, warnte Lindner. In diesem Fall sei auch mit einer deutlichen Zunahme vermeidbarer Suizide in Deutschland zu rechnen. „Eine gesetzliche Suizidprävention muss deshalb vor einer gesetzlich geregelten Suizidhilfe stehen“, erklärte er.
Nach Auffassung des Nationalen Suizidpräventionsprogramms verbessert sogar keiner der vorgelegten Gesetzentwürfe die Situation suizidaler Menschen. Anders als vom Bundesverfassungsgericht beabsichtigt, könne die Einführung von Beratungsstellen für die Zulassung zum assistierten Suizid zu einer Normalisierung dieser Art des Sterbens führen, mahnt es.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin empfiehlt statt einer Umsetzung von Gesetzentwürfen die Fortsetzung der notwendigen Diskussion über einen angemessenen Umgang mit der Frage der assistierten Selbsttötung.
Noch immer bestünden Informationsdefizite zu Alternativen und Unterstützungsmöglichkeiten für Menschen, die die Selbsttötung als Option in Betracht ziehen, sagte Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. „Wir sehen jedoch die gezielte Information der Öffentlichkeit über die Möglichkeiten zur Gestaltung des Lebensendes unter würdevollen Bedingungen als dringend notwendig an“, mahnte er.
Die jetzt vorliegenden Gesetzesentwürfe böten scheinbar einfache Lösungen für ein sehr komplexes Problem und seien das Ergebnis einer überwiegend juristischen Perspektive, die der Individualität von Sterbewünschen und der Lebenswirklichkeit von Betroffenen und im Gesundheitswesen Tätigen in keiner Weise gerecht werde. „Es kann aus unserer Sicht nicht gelingen, die Anliegen schwerstkranker Menschen, einsamer Hochaltriger oder auch junger Menschen, die in einer Krise ihr Leben beenden wollen, in eine Rechtsnorm zu pressen“, betonte er.
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