Ausland

Auftragsvergabe des NHS an Palantir trifft auf massive Kritik

  • Montag, 27. November 2023
/picture alliance, Dominic Lipinski
/picture alliance, Dominic Lipinski

Berlin – In England sorgt derzeit eine Auftragsvergabe des Nationalen Gesundheitsdienstes (NHS) für Dis­kussionen. Ein Unternehmenskonsortium angeführt vom amerikanischen Softwaredienstleister Palantir soll eine Datenplattform für den NHS aufbauen.

In der Vergangenheit hatte Palantir vor allem mit einer Software namens Gotham in den Medien und in der Kritik gestanden. Sie wird von zahlreichen Geheimdiensten zur Verknüpfung und Auswertung ihrer Daten genutzt, darunter CIA und NSA. Kritiker werfen dem Unternehmen vor, auch autoritäre Staaten würden mit seiner Software unschuldige Bürger ausspionieren.

Dieses Unternehmen wurde nun vom NHS beauftragt, im großen Stil die englischen Gesundheitsdaten zu ver­walten. Komplett überraschend kam das nicht, Palantir ist schon seit längerem auch im Gesundheitswesen aktiv.

So nutzen beispielsweise Krankenhäuser in den US-Bundesstaaten Ohio und Florida die Software Foundry, um Prozesse zu optimieren, Patienteninformationen für Ärzte zusammenzufassen oder Behandlungsdaten auto­ma­tisch für die klinische Forschung aufzubereiten, wie das Unternehmen erklärt.

Der jetzige Deal spielt hingegen in einer anderen Liga: Palantir steht an der Spitze eines Konsortiums, zu dem auch weitere namhafte Unternehmen und Unternehmensberatungen wie Accenture, Microsoft, Amazon Web Services und PricewaterhouseCoopers (PwC) gehören.

Einem Bericht der Nachrichtenagentur Bloomberg zufolge handelt es sich um den größten IT-Vertrag, der im englischen Gesundheitswesen jemals geschlossen wurde. Sein Volumen beträgt demnach 480 Millionen Pfund (553 Millionen Euro). 330 Millionen Pfund (380 Millionen Euro) sollen innerhalb eines Fünfjahresver­trags ausgezahlt werden mit der Option auf eine Verlängerung um zwei Jahre.

Gemeinsam sollen sie eine Federated Data Platform (FDP) aufbauen. Es soll die zentrale Platt­form werden, über die die verschiedenen Dienstleister und Versorgungsbereiche des NHS England Daten austauschen und miteinander kommunizieren. Damit dürften die Daten eines Großteils aller im NHS England versorgten Patienten über sie laufen.

„Der NHS verwaltet Daten in unterschiedlichen Systemen, die nicht effektiv und effizient miteinander ver­bunden sind“, erklärte die britische Gesundheitsministerin Victoria Atkins. Ärzte und andere Bedienstete im Gesundheitswesen würden täglich unnötig viel Zeit dafür aufbringen müssen, Informationen händisch zusammenzuführen.

Die FDP werde ihnen diese Arbeit künftig abnehmen. Jede Gesundheitseinrichtung werde ihre eigene Version der Plattform erhalten, die in der Lage ist, sich als Teil einer Föderation mit den anderen Plattformen zu ver­binden und mit ihnen zusammenzuarbeiten. 36 Organisationseinheiten des NHS hätten die Plattform bereits im Rahmen eines Pilotprojekts erprobt und die Erfahrungen damit als „Game-Changing“ beschrieben.

„Es hat ihnen geholfen, ihre Kliniken und Wartelisten besser zu organisieren, indem sie Daten aus verschie­denen Krankenhaussystemen integriert und konsolidiert oder eine einzige Liste mit Informationen erstellt haben, die von allen im Gesundheits- und Pflegebereich Tätigen bei der Entlassung von Patienten aus dem Krankenhaus verwendet werden“, erklärte Atkins.

Zudem habe der NHS bereits in der Coronapandemie gute Erfahrungen mit der Zusammenarbeit gemacht. Palantir hatte die „COVID Platform“ bereitgestellt, über die der NHS die Impfkampagne inklusive Bestellung, Lagerung und Logistik organisierte.

Durchwachsene Bilanz

Was Atkins allerdings nicht erwähnte, ist, dass die Pilotprojekte keineswegs ein durchschlagender Erfolg waren. Einem Bericht der Medienplattform Yorkshire Bylines zufolge wurden elf der 36 Pilotprojekte pausiert oder vorzeitig abgebrochen.

Eine Herzklinik in Liverpool habe beispielsweise erklärt, die Plattform erfülle nicht ihre Bedürfnisse. Das Mil­ton Keynes Hospital in Buckinghamshire habe die Erprobung abgebrochen, weil eine manuelle Dateneingabe durch Ärzte und Pflegende notwendig geworden sei. Einer Umfrage des Health Service Journal zufolge gaben nur acht der 36 beteiligten Standorte an, dass ihnen die Plattform einen Mehrwert in der Versorgung geboten habe.

Auch die Ärzte des NHS England scheinen weniger begeistert von dem Deal zu sein als Atkins es suggeriert. Die Vertragsvergabe durch den NHS sei „zutiefst besorgniserregend“, erklärte Latifa Patel, Vorsitzende des Vertretungsgremiums der British Medica Association (BMA). Die BMA habe bereits seit Monaten ihre Besorgnis über die bereits im Vorfeld erwartete Entscheidung deutlich gemacht und eigens in einem Schreiben an Atkins‘ Amtsvorgänger Steve Barclay auf ein Umdenken gedrängt.

Es dürfe nicht zugelassen werden, dass Patientendaten missbraucht werden. Ärzte müssten genau wissen, wie vertrauliche Patientendaten innerhalb dieser Datenplattform verwendet werden und welche Rolle Palantir – das als Unternehmen ein kommerzielles Interesse an dieser Entscheidung habe – spielen wird.

„Dieser Vertrag ist mit einer horrenden Summe dotiert – Geld, das dringend für die direkte Versorgung der Patienten benötigt würde und für andere Bereiche der Gesundheits- und Sozialfürsorge, die sich nach wie vor in einer solchen Krise befinden, ganz zu schweigen von dem anhaltenden Personalmangel“, kritisierte Patel.

Auch die Doctor’s Association UK wendet sich gegen die Entscheidung. „Es gab keine ausreichende öffentliche Prüfung, was dies für den NHS und die Patienten bedeutet und ob ein solches Geschäft für den Steuerzahler von Nutzen ist, und das, obwohl der NHS bei der IT-Beschaffung bisher keine guten Erfahrungen gemacht hat“, erklärte Verbandssprecher David Nicholl.

Patientenvertreter warnen vor Vertrauensverlust

Neben Ärzten und Datenschützern wenden sich auch Patientenhilfegruppen gegen den Zuschlag für Palantir. Derart grundlegende Änderungen im Umgang mit so sensiblen Daten müssten so transparent wie möglich vorgenommen werden, um das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewinnen.

„Diese Maßnahme gibt einem US-Spionageunternehmen enorme Macht über unser Gesundheitssystem und gefährdet die Zukunft des NHS als öffentlicher Dienst“, erklärte Izzie Jani-Friend von der Patientenorganisa­tion Just Treatment. „Ich befürchte, dass viele Patienten wie ich reagieren werden, nämlich indem sie ihre Einwilligung [zur Datenverarbeitung, Anm.d.Red.] zurückziehen oder sich zweimal überlegen, wie sehr sie ihren privaten Gesprächen mit Ärzten vertrauen können. Ich fordere die Regierung, ihren Kurs zu ändern.“

Palantir selbst weist die Vorwürfe, ein Interesse an sensiblen Gesundheitsdaten zu haben, von sich. Es sei nicht das Geschäft des Unternehmens, Daten zu sammeln, zu schürfen oder zu verkaufen. „Wir sind kein ‚Da­tenbroker‘ oder Datenaggregator. Im Gegensatz zu vielen Tech-Unternehmen basiert unser Geschäftsmodell nicht auf der Monetarisierung persönlicher Daten“, schreibt Palantir bezüglich der Auftragsvergabe.

Doch das reicht vielen Kritikern nicht aus. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert, dass Palantir „gusseiserne Garantien“ abgeben müsse, Patientendaten auch in Zukunft nicht zu monetarisieren.

„Die Öffentlichkeit, die auf den NHS angewiesen ist, muss darauf vertrauen können, dass ihre informierte Zustimmung in allen Phasen der Datenerfassung eingeholt wird, und sie muss sicher sein können, dass ihre persönlichen Daten nicht von Palantir für Zwecke gesammelt werden, die wenig mit ihrer Gesundheit zu tun haben“, erklärte Peter Frankental, Direktor für Wirtschaft und Menschenrechte von Amnesty International UK.

Palantir wiederum hat in der Vergangenheit auch selbst dazu beigetragen, Zweifel an der Aufrichtigkeit der eigenen Arbeit zu streuen. Der NHS sei eine „iatrogene Institution“, die Menschen krank mache, statt ihnen zu helfen, hatte Firmenchef Peter Thiel laut einem Bericht der Tageszeitung The Guardian noch Anfang dieses Jahres erklärt.

Es brauche viel mehr marktwirtschaftliche Mechanismen, um das System NHS effizient zu machen, betonte der gebürtige Frankfurter. Die Wertschätzung, die die Briten für ihr Gesundheitssystem empfinden, gleiche dem Stockholm-Syndrom.

lau

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