Politik

Baden-Württemberg legt Translations­strategie für Medizinforschung vor

  • Mittwoch, 6. Dezember 2023
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg./picture alliance, Marijan Murat
Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg./picture alliance, Marijan Murat

Berlin – Die Landesregierung von Baden-Württemberg will den Übergang von Erkenntnissen aus der medizinischen Forschung in die Wirtschaft und in die Versorgung verbessern. Dazu hat sie heute in Stuttgart ihre Translationsstrategie für Medizinforschung vorgestellt.

Die Reihe an Problemen in der Versorgung sei lang, kritisierte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Sie reiche von Arzneimitteln, die in Zulassungsschleifen festhängen, über klinische Studien, die von einer Ethikkommission genehmigt werden, von einer anderen aber nicht, bis hin zu Antragsportalen, die nicht funktionieren.

„Wenn Regulation Innovation frisst, kriegen wir ein Problem in der Versorgung sowie als Forschungs- und Wirtschaftsstandort“, mahnte er. „Jede Geschichte gelungener Translation ist eine Geschichte neuer Hoffnung für Patienten.“

Deshalb begrüße er auch das Medizinforschungsgesetz der Bundesregierung, das bereits einige Punkte enthalte, die auch Baden-Württemberg in seiner Translationsstrategie adressiere. So brauche es mehr Muster für Anträge zur klinischen Forschung, „damit nicht bei jeder kleinen Studie das Rad neu erfunden werden muss“, sagte Kretschmann.

Es brauche weniger bürokratische Hürden, mehr Selbstverantwortung und ein höheres Tempo, damit Patientinnen und Patienten konkret von neuen Therapiemöglichkeiten profitieren können. Allerdings gibt es aus Sicht von Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) auch auf umgekehrtem Wege noch Verbesserungsbedarf.

„Wir bieten ein sehr innovationsfreudiges Ökosystem“, erklärte er mit Blick auf die Forschungs- und Unternehmenslandschaft im Ländle. „Aber wir haben Hemmnisse, wenn es darum geht, Erkenntnisse und Bedarfe aus der Versorgung in die Forschung zu übertragen. Wir sind komplett überreguliert.“

Demografischer Wandel, die Zunahme an multimorbiden und chronisch kranken Patienten, der Fachkräftemangel sowie der steigende Kostendruck im Gesundheitssystem würden deshalb den Bedarf nach effizienten Strukturen sowohl zwischen Forschung und Markt als auch zur Implementierung neuer Technologien im Gesundheitswesen steigern.

Forum berät seit fünf Jahren

Auf Initiative von Ministerpräsident Kretschmann wurde deshalb bereits 2018 das Forum Gesundheits­standort Baden-Württemberg gegründet, um die Vernetzung der Bereiche Forschung, Gesundheitsversorgung und -wirtschaft zu verbessern.

In ihm haben sich in den vergangenen fünf Jahren rund 600 Expertinnen und Experten aus Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, Krankenkassen, Forschungsinstituten und Universitäten sowie Biotech-, Pharma- und Medizintechnikfirmen aus Baden-Württemberg beraten, wie diese Ziele am besten zu erreichen sind.

Nun haben sie ihre Strategie zur Verbesserung der medizinischen Translation für Baden-Württemberg vorgelegt. Sie konzentriert sich im Wesentlichen auf vier große Bereiche: die Verbesserung von Genehmigungsverfahren, die Entwicklung innovativer Finanzierungsmöglichkeiten, eine intensivere Kooperation zwischen Wissenschaft, Versorgung und Industrie sowie innovative und chancenorientierte Rahmenbedingungen in der Translation.

So will die Landesregierung daran mitarbeiten, Genehmigungsverfahren für klinische Studien zu vereinfachen und Vertragsvorgaben zu vereinheitlichen – wie es auch das Medizinforschungsgesetz vorsieht. Zudem soll geprüft werden, künftig eine übergreifende und landesweit zuständige Ethikkommission zu etablieren.

Derzeit verfügt Baden-Württemberg nämlich über insgesamt sechs medizinische Ethikkommissionen, die Forschungsvorhaben mit Menschen oder menschlichem Biomaterial prüfen und über deren Durchführung entscheiden.

Bei standortübergreifenden Forschungsvorhaben – das Land hat acht Universitäten, 15 Hochschulen für angewandte Wissenschaften und 21 außeruniversitäre Forschungseinrichtungen – könne deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass identische Anträge an den Standorten unterschiedlich und zeitlich versetzt bewertet werden.

Unzureichende Finanzierungsmöglichkeiten

Neben den Forschungsstandorten ist Baden-Württemberg auch Sitz vieler Unternehmen der Pharma-, Medizintechnik- und Biotech-Branche. Rund 1.100 Unternehmen beschäftigen mehr als 88.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und erwirtschaften einen jährlichen Umsatz von 25 Milliarden Euro. Allerdings leiden gerade junge Unternehmen wie Start-ups an den unzureichenden Finanzierungmöglichkeiten in Deutschland.

Die bisherigen Modelle dazu hätten sich nicht bewährt, kritisierte der Leiter der Koordinierungsstelle Telemedizin Baden-Württemberg, Oliver G. Opitz: „Wir sind alle einer Meinung, dass die Umsetzung der Innovationsfondsprojekte in der Versorgung unzureichend ist.“

Deshalb solle ein Teil des Fördervolumens des Innovationsfonds zur Finanzierung eines Innovationsbudgets für Krankenkassen genutzt werden, heißt es in der Translationsstrategie. Die Kassen würden demnach mit diesem Budget Mittel und Anreize erhalten, Forschungsansätze zu fördern, die patientenorientiert, versorgungsnah, gesundheitsökonomisch und auf die Regelversorgung ausgerichtet sind.

Darüber hinaus müssten mehr Programme aufgesetzt werden, um die Kenntnis über Finanzierungs- und Förderprogramme zu verbessern und zu adaptieren. Unter anderem werde das Forum dazu in Zusammenarbeit mit dem zentralen Landesportal „THE Start-up LÄND“ bestehende Fördermöglichkeiten für Gründerinnen und Gründer im medizinischen Bereich künftig transparenter darstellen.

Das sei auch nötig, erklärte Reiner Wessel, Innovationsleiter des Deutschen Krebsforschungszentrums, heute bei der Vorstellung der Strategie. In den Life Sciences herrsche generell eine risikoaverse Kultur, Wissenschaftler seien oft sehr wirtschaftsfern.

Unter Ingenieurinnen und Ingenieuren sei es beispielsweise viel normaler, dass eine Professorin oder ein Professor auch in einem Unternehmen tätig ist. Da müsse man auch in den medizinischen Wissenschaften hinkommen.

Außerdem sollen auch Akteurinnen und Akteure aus der Finanzierungslandschaft eingebunden werden, um herauszuarbeiten, ob und wie die Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen aus dem Bereich Life Sciences in der Pre-Seed-Phase optimiert werden können. Pre-Seed beschreibt den Zeitraum vor der formalen Gründung eines Unternehmens, in der vor allem in wissenschaftsnahen Bereichen bereits große Investitionen in Technik und Know-how notwendig sein können.

Bessere Vernetzung nötig

Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt will das Forum künftig auf die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Versorgung und Industrie legen. So will es einen Konsultationsprozess zur Sammlung wiederkehrender rechtlicher Unklarheiten im Bereich des Kooperationsschlusses mit der Industrie und bei Ausgründungen durchführen sowie geeignete Möglichkeiten prüfen, um auf eine einheitliche und schnelle Auslegung hinzuwirken.

Auch sollen die an den Universitäten bestehenden Unterstützungsangebote und -organisationen – beispielsweise Technologie-Transfer-Offices – für die spezifischen Anforderungen von Medizin und Life Sciences weiter zu stärken sowie den Austausch mit Inkubatoren und Acceleratoren zu intensivieren.

Den umgekehrten Informationsfluss, also aus der Versorgung in die Forschung, soll eine landesweite, digitale Plattform verbessern. Das Forum wolle prüfen, inwieweit auf ihre medizinische Bedarfe und Problemstellungen hinterlegt werden können, für die Lösungen und Innovationen entwickelt werden sollten.

Weitere Konzepte zur Verbesserung des frühzeitigen Austausches zwischen Start-ups, Gründungszentren, Forschung und insbesondere Versorgung, um diese medizinischen Bedarfe zu adressieren und den Übergang in die Versorgungslandschaft zu begleiten, will das Forum mit den beteiligten Akteuren entwickeln und sammeln.

Neue Technologien besser einbinden

Zuletzt sollen stabile Rahmenbedingungen ein „stabiles Translationsökosystem“ schaffen. So müssten beispielsweise die Möglichkeiten zur Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) verbessert werden. KI sei „zukünftig nicht mehr aus dem Praxisalltag wegzudenken“, heißt es im Strategiepapier.

Allerdings würden viele KI-Anwendungen aktuell im Forschungskontext verbleiben und keine Marktreife erlangen. Die Gründe lägen unter anderem in komplexen regulatorischen, technischen und finanziellen Rahmenbedingungen. Diese Translationsbarrieren will das Forum systematisch erheben und entsprechende Lösungsvorschläge erarbeiten.

Weitere neue Technologien, die im medizinischen Bereich besonders zukunftsträchtig sein könnten, großes wirtschaftliches Potenzial haben und für die Versorgung einen Sprung nach vorne bedeuten könnten, sollen künftig systematisch gescreent werden.

„Ein Technologiescreening kann durch eine vorausschauende Betrachtung möglicher Zukunftstrends dazu beitragen, das Land konsequent auf strategische Innovationen präventiv auszurichten“, heißt es im Strategiepapier.

Deshalb will das Forum unter Einbeziehung des Innovation Boards der Landesagentur BIOPRO – die für die Gründerförderung im Gesundheitsmarkt zuständig ist – besonders zukunftsträchtige medizinische Technologiebereiche ermitteln, damit Leuchtturmprojekte geschaffen und in zukünftigen Maßnahmen konkret adressiert werden können.

Die Maßnahmen, die in der Strategie ausgeführt werden, sollen nun unter der Federführung der jeweils zuständigen Fachressorts sowie unter Beteiligung der Akteure in die konkrete Umsetzung gebracht werden. Neben dem Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration sind daran auch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst sowie Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus beteiligt.

lau

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