Politik

Corona in Fleischfabrik: Kritik an Zuständen, mehr als 200 Infizierte

  • Sonntag, 10. Mai 2020
/picture alliance, Kirchner
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Düsseldorf/Coesfeld – Nach dem SARS-CoV-2-Ausbruch in einem Fleischbetrieb in Coes­feld mit mehr als 200 infizierten Arbeitern gibt es massive Kritik an den Zuständen in der Fabrik. Das Verwaltungsgericht Münster lehnte einen Eilantrag der Firma West­fleisch ge­gen die befristete Schließung des betroffenen Schlacht- und Zerlegebetriebes ab.

Der Betrieb sei „aufgrund ersichtlich unzureichender Vorsichtsmaßnahmen“ zu einer „er­heblichen epidemiologischen Gefahrenquelle“ nicht nur für die Belegschaft geworden, hieß es in der Begründung. Gewerkschaften forderten schärfere Kontrollen und grund­le­gend bessere Arbeitsbedingungen in allen Fleischbetrieben. Die Zahl der positiv auf das Coronavirus getesteten Arbeiter in dem Betrieb stieg bis heute Mittag nach Angaben des Kreises auf 205 an.

Knapp die Hälfte der Ergebnisse von bisher rund 950 Corona-Tests lag demnach vor. Er­neut waren heute Teams des Gesundheitsamtes vor Ort, um die Arbeiter in ihren verstreut im Kreis Coesfeld liegenden Unterkünften zu testen und über die Quarantäne zu beleh­ren, wie ein Kreissprecher sagte. Dabei unterstützten sie Dolmetscher. Insgesamt hat der betroffene Betrieb rund 1.200 Beschäftigte. Die Arbeiter sind nach Angaben von Westflei­sch mehrheitlich in Wohnungen mit drei, vier oder fünf Personen untergebracht. Viele Ar­beiter in der Fleischbranche kommen aus Osteuropa.

Für den Kreis Coesfeld sind die Konsequenzen des Ausbruches schwerwiegend. Viele der von Montag an landesweit geplanten Lockerungen der Auflagen etwa für Gaststätten und Geschäfte wurden um eine Woche verschoben. Damit reagierte der Kreis auf die erst am vergangenen Mittwoch getroffenen Bund-Länder-Vereinbarungen. Diese sehen bei Über­schreiten eines bestimmten Grenzwertes der Neuinfektionen umgehend ein konsequen­tes Beschränkungskonzept vor. Außerdem sollen die bis zu 20.000 Mitarbeiter aller Schlachtbetriebe in Nordrhein-Westfalen auf das Coronavirus getestet werden.

Der Kreis Coesfeld hatte die Schließung der Westfleischfabrik von Samstag bis zum 18. Mai verfügt. Es sei davon auszugehen, dass es noch eine unbestimmte Anzahl von Ver­dachtsfällen oder Ansteckungen dort gebe, hieß es in dem Gerichtsbeschluss. Westfleisch kann dagegen innerhalb von zwei Wochen Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht NRW einlegen.

Laschet rechtfertigt Stopp

Das Amt für Arbeitsschutz habe bei einer Überprüfung festgestellt, dass es sowohl im Be­reich des Zerlegebandes als auch in den Umkleiden Probleme gebe, den Mindestabstand von 1,50 Metern einzuhalten, so das Gericht. Die Mund-Nasen-Schutzmasken würden am Zerlegeband nicht korrekt getragen. Die Firma sei nicht in der Lage gewesen, Infektions­schwerpunkte zu benennen.

Westfleisch zeigte sich betroffen. Man stehe mit den insgesamt rund 5.400 Beschäftigten und den Landwirten im engen Austausch. Westfleisch arbeite „unter Hochdruck“ an Lö­sun­gen für die Landwirte. Unter Berufung auf den Westfälisch-Lippischen-Landwirt­schafts­verband (WLV) teilte das Unternehmen mit, dass rund 1.000 Schweinemäster den Westfleisch-Standort Coesfeld beliefern.

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) rechtfertigte den Stopp der Auflagenlocke­run­gen. „Wenn man öffnet, muss man da, wo Gefahr ist, konsequent handeln“, sagte La­schet gestern in Bochum. „Der Schutz der Bevölkerung steht vor allem.“

Der Grünen-Ortsverband in Dülmen im Kreis Coesfeld warf der Verwaltung vor, zu spät auf den Coronaausbruch reagiert zu haben. Schon zu Beginn der vergangenen Woche sei bekannt gewesen, dass sich in der Fleischfabrik ein Hotspot der Pandemie gebildet habe. Der Betrieb sei aber noch bis Freitag weitergelaufen.

Auch der Kreis Steinfurt im Münsterland testete unter Hochdruck Bewohner von Sammel­unterkünften, die insbesondere in fleischverarbeitenden Betrieben arbeiten. Insgesamt rund 1.700 Bewohner in etwa 100 Unterkünften seien aus nahezu allen Städten und Ge­meinden gemeldet worden, teilte der Kreis mit.

Laut einer Übersicht des Robert-Koch-Instituts (RKI) von heute lag die Zahl der Neuinfek­tio­nen im Kreis Coesfeld bei rund 85 pro 100.000 Einwohner und Woche. Nach Angaben des RKI von gestern hatte dieser Durchschnittswert noch 76 betragen. Das RKI weist da­rauf hin, dass es unter anderem durch einen Verzug bei Datenübermittlungen zu Diskre­pan­zen zwischen seinen Angaben und den tatsächlichen lokalen Zahlen kommen kann.

Der Kreis selbst gab zunächst keine Zahlen dazu an. Außer Coesfeld lagen alle anderen Kreise und kreisfreien Städte in NRW deutlich unter dem von Bund und Ländern verein­bar­ten Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen.

Unterdessen kam eine Debatte über die Arbeits-und Gesundheitsbedingungen in Schlacht­höfen auf. DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel sagte: „In Schlachthöfen muss deut­lich mehr unternommen werden, um die Risiken für Sicherheit und Gesundheit der Be­schäftigten zu reduzieren.“ Die Branche falle seit Jahren immer wieder mit miserablen Arbeitsbedingungen auf.

Der Vize-Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Freddy Adjan, sagte: „Diese Krise macht deutlich, wie überfällig es ist, auf Stopp zu drücken und den ruinösen Preiskampf beim Fleisch zu beenden.“ Bundesarbeitsminister Hubertus Heil
(SPD) rief die zuständigen Länder zum Durchgreifen und zu Kontrollen der Arbeitsschutz­regeln auf.

Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sprach von einem „ausbeuterischen Geschäftsmo­dell“, mit dem nun „Schluss sein“ müsse. „Corona offenbart die unhaltbaren Zustände in einigen Schlachthöfen“, sagte Hofreiter. „Schon vor der Krise war bekannt, wie mies die Hygiene in vielen Betrieben ist. Das liegt auch an den extrem schlechten Arbeitsbedin­gungen – von mangelhafter Ausrüstung bis ausbeuterischen Arbeitszeiten.“ Ein „zentrales Problem“ sei die Unterbringung in „überbelegten, miserablen Unterkünften“.

dpa/afp

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