Vermischtes

Der Lockruf der Spritze: Neuköllns Rezepte gegen Impfmüdigkeit

  • Mittwoch, 14. Juli 2021
Taman Noor (l), Leiter des Interkulturellen Aufklärungsteams für Berlin Neukölln (IKAT), und Nicolai Savaskan, Leiter des Gesundheitsamts Neukölln, stehen bei einer Impfstelle auf dem Gelände des Bezirksamts Neukölln. Noor leitet ein siebenköpfiges Team, das in rund zehn Sprachen an öffentlichen Orten und Migrantentreffs zum Thema Corona berät. /picture alliance, Christophe Gateau
Taman Noor (l), Leiter des Interkulturellen Aufklärungsteams für Berlin Neukölln (IKAT), und Nicolai Savaskan, Leiter des Gesundheitsamts Neukölln, stehen bei einer Impfstelle auf dem Gelände des Bezirksamts Neukölln. Noor leitet ein siebenköpfiges Team, das in rund zehn Sprachen an öffentlichen Orten und Migrantentreffs zum Thema Corona berät. /picture alliance, Christophe Gateau

Berlin – Wie viele Menschen sich in Berlin-Neukölln wohl impfen lassen werden in der Pandemie? Maxi­mal 50 bis 60 Prozent, sagt Albert Ngwa. Mehr sei bei der Impfquote wohl nicht drin. Den Eindruck hat er nicht einfach aus der Luft gegriffen. Ngwa gehört zum interkulturellen Aufklärungs­team des Bezirks und berät alle, die möchten, zu Corona und zum Impfen. „Frauen sind sensibler“, sagt er. „Die hören zu und stellen vernünftige Fragen.“ Männer sagten eher: „Weiß ich schon.“

Manchmal ist Neukölln – mit 330.000 Einwohnern eine Großstadt in der Bundeshauptstadt – wie ein Brennglas für soziale Entwicklungen in Deutschland. Der Bezirk steht dabei nicht nur für Schlagwörter wie Rütli-Schule oder einen hohen Migrantenanteil. Neukölln hat auch ein Gesundheitsamt und einen Pandemiestab, die all jenen voraus scheinen, die nun rufen, dass der Impfstoff jetzt zu den Menschen kommen müsse. So weit war Neukölln schon im Frühjahr. Nur zugehört hat kaum jemand.

Zusammen bringt es das fünfköpfige interkulturelle Team des Bezirks auf 13 Fremdsprachen. Albert Ngwa spricht neben Deutsch auch Englisch, Französisch und Kreolisch. Fast jeden Tag ist er für Gesprä­che auf der Straße. „Ich glaube nicht, dass wir 80 Prozent schaffen können beim Impfen“, sagt er aus Er­fahrung. In seinem sozialen Netzwerk hat Ngwa aber auch ein Zitat von Albert Einstein gepostet: „Auf Veränderungen zu hoffen, ohne selbst etwas dafür zu tun, ist wie am Bahnhof zu stehen und auf ein Schiff zu warten.“

Im Neuköllner Gesundheitsamt hängen im Zimmer von Amtsarzt Nicolai Savaskan rote Boxhandschuhe am Aktenschrank, ein Roller lehnt an der Wand, manchmal liegt Bordercolliemischling Woody unter dem Schreibtisch. Savaskan, Anfang 50, Epidemiologe, ist das Gegenteil des Klischees, das so manche vom kaputtgesparten und verstaubten öffentlichen Gesundheitsdienst im Kopf haben mögen. Er ist umtriebig, eloquent, sachlich, immer erreichbar und im Kopf oft schon zwei bis drei Schritte voraus. Alles Gold wert in dieser Pandemie.

Savaskan denkt gerade über Pop-Up-Gesundheitskioske nach, die dort stehen könnten, wo viele Men­schen freiwillig hingehen – auf dem Wochenmarkt, in Parks, auf Sportplätzen, in Schwimmbädern, in Schulen. „Auch in einer Bar. Aber wenn, dann dauerhaft. Nur nicht in einer Shishabar. Die hat für mich mit Gesundheit zu wenig zu tun.“ Und das alles bitte nicht nur in der Pandemie. „Verwaltung muss Gesundheit mitdenken, immer und überall“, sagt Savaskan. Jetzt gehe es um Coronaimpfungen. Doch was sei mit Über­gewicht, mit Hitzetoten?

Ein Vorläufermodell zum Gesundheitskiosk gab es längst in Neukölln: Ein Lkw-Anhänger stand im Früh­jahr auf dem Wochenmarkt am Karl-Marx-Platz. Darin saß ein Amtsarzt und bot kostenlose Coronatests an, als es sie anderswo noch kaum gab. Das Beratungsteam schwärmte aus und schickte Interessierte dorthin. Savaskan wollte auch ein Impfangebot im Anhänger, um all die zu erreichen, die sich nicht selbst um Termine bemühen. Impflücken aufzutun und zu schließen gehört zu den traditionellen Aufgaben der deutschen Gesundheitsämter.

Doch seine oberste Behörde, die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, setzte zu dieser Zeit nur auf Impfzentren, später dann auch auf Arztpraxen. Die Gesundheitsämter, hieß es, hätten mit der Nachver­fol­gung von Kontakten genug zu tun. Das schärfste Schwert gegen die Pandemie, so empfand es Savaskan, durfte er für seinen Bezirk nicht nutzen.

Der Amtsarzt und sein Team waren im März gedanklich schon da, wo manche Bundes- und auch Berliner Politiker gerade erst anzukommen scheinen: Impfmüdigkeit, Impflücken – und was nun? 85 Prozent der Bundesbürger zwischen zwölf und 60 Jahren und 90 Prozent der Bevölkerung jenseits der 60 müssen nach der jüngsten Einschätzung des Robert-Koch-Instituts vollständig geimpft sein, damit es mit der Pan­de­mie endlich ein Ende haben könnte. Im Moment sind es fast 45 Prozent.

Savaskan glaubt, dass 70 Prozent Impfquote in Neukölln hinzukriegen sind. Für ihn gibt es nur ein bis zwei Prozent hartnäckige Impfgegner, bei denen nichts zu machen ist. Mit den entscheidenden zehn bis 15 Prozent, die am Ende vielleicht fehlten, könne man reden, sagt er. Nur bitte mit Konzept und auf keinen Fall vom Schreibtisch aus.

Als sich die Senatsgesundheitsverwaltung im Mai für die erste Schwerpunktimpfung in Neuköllner Kie­zen mit hohen Inzidenzen auf die Schulter klopfte, sagte Savaskan: „Ein Aufschlag, ja. Aber wir errei­chen damit nicht unbedingt die, die wir brauchen.“ Das sind für ihn die Uninformierten, die Desinfor­mierten und auch all jene, die mit Behördeninformationen und Flyern wenig anfangen können.

In den sozialen Brennpunkten Neuköllns, die es allein schon wegen beengter Wohnverhältnisse und Billigjobs ohne Homeoffice leicht zu bundesweiten Spitzeninzidenzen bringen, müsse es eine Feinjustie­rung geben. Eine kleinteilige, individuelle und kultursensible Beratung. Und die Spritze schnell on top, für alle, die sie dann wollen.

Doch damit drang er bis Anfang Juli nicht durch die dicken Lehmschichten, die es in Berlin zwischen den Bezirken und der Senatsverwaltung zu geben scheint. „Wir nehmen das mit“, heißt es dann in den Runden mit den zwölf Berliner Amtsärzten. Für das, was oft folgt, hat Savaskan seine eigene Diagnose. Er nennt es „administrative Obstipation“, zu deutsch: Verstopfung.

In Savaskans Zimmer sitzt auch Ärztin Christine Wagner. Sie ist Ende 30 und bastelt seit mehr als einem Jahr an Podcasts und Videoclips in Sachen Pandemie: „Unterhaltend, menschlich, nicht mit dem erho­be­nen Zeigefinger. Wir sind wie ein Übersetzerbüro.“ Auch für Amtsdeutsch.

Wagner hat inzwischen ein fünfköpfiges Team. Ozam Yagbasan ist 24 und schaut, was das Videoportal TikTok zum Thema Pandemie gerade auf Arabisch bietet. „Auf ‚berlin.de‘, da surft von meinen Freunden kaum jemand“, sagt er. Sein Kollege Serkan Cetinkaya, türkische Wurzeln, Schauspieler und Comedian, erklärt die Taktik: „Wir wollen die Leute auf die Schippe nehmen. Aber lieb.“ Humor ist für Cetinkaya et­was, das mehr wirkt als Verbote. Er glaubt, dass heitere Impfaufklärung Spra­chen und Kulturen über­winden kann.

Was macht ihn da so sicher? Cetinkaya ist zu Mauerzeiten in Westberlin aufgewachsen. Er hat die „Bill Cosby Show“ im Fernsehen geliebt, Jahrzehnte bevor der schwarze Entertainer in den USA nach Vorwür­fen wegen sexueller Nötigung vor Gericht stand. „Ich hab mich über diese Show schlapp gelacht. Und ich bin weder schwarz noch aus Brooklyn“, ergänzt Cetinkaya.

Genauso müsse Pandemieaufklärung das Publi­kum erreichen, auf allen Kanälen: Youtube, Instagram, Facebook, TikTok. Gerade geht es darum, gebrauchte Masken nicht einfach auf die Straße zu schmeißen. Doch in welche der vielfarbigen deutschen Mülltonnenlandschaft gehören sie? „In die schwarze Tonne“, sagt Cetinkaya. Der Videoclip dazu ist in Arbeit.

Der Norden Neuköllns ist zwischen seinen Partymeilen und angesagten Cafés reich an sozial schwachen Gegenden, die nun Planungsräume heißen. Fast jeder zweite Bürger mit ausländischen Wurzeln hat hier statistisch gesehen eine unterdurchschnittliche Bildung. Mehr als jeder Dritte ist von Armut bedroht, ge­messen an den Durchschnittseinkommen. Schon vor der Pandemie haben Forscher ausgerechnet, dass das alles im Schnitt zehn Lebensjahre kosten kann.

„In Neukölln, nicht in Afghanistan“, sagt Savaskan dazu. Wobei er lebensnahe Aufklärungs- und Impfange­bote nicht allein für Menschen mit Migrationshintergrund für nötig hält. Entscheidend seien Bildungs­status und Lebensumstände. „Auch Oma Kasupke kann da einfach durchs System flutschen. Und sie hat die Impfung am nötigsten.“

Für die erste Schwerpunktimpfung bekam der Bezirk vom Land eine Rechnung: 35.000 Euro für rund 2.400 Spritzen. Für Menschen, die sich nach Savaskans Einschätzung in der Mehrheit wohl auch anders­wo um einen Impftermin bemüht hätten. „Verballert“, nennt er das.

Einmal in der Woche trifft sich in Neukölln der Pandemiestab mit Vertretern aus allen Bezirksämtern. Hier wird auch Savaskan manchmal auf den Boden der Berliner Tatsachen zurückgeholt. „Impfpässe in Bürgerämtern? Das meinen Sie doch jetzt nicht ernst“, sagt dann eine Kollegin. Denn auf Termine im Bürgeramt warten die Bürger oft Wochen – wenn sie Glück haben. Die Schatulle des Bezirksbürger­meisters ließ sich via Pandemiestab immerhin öffnen, auch für innovative Beratung.

Taman Noor leitet das interkulturelle Aufklärungsteam in Neukölln. In Afghanistan geboren, hat er in Bremen Kulturwissenschaft und Anglistik studiert. Ihn interessieren Fragen wie das Lebensgefühl in der Diaspora und was eine Gesellschaft zusammenhält. Auch er ist auf Märkten unterwegs, in Parks, bei Frauen- und Nachbarschaftstreffs.

Noor hat schon gar keine Lust mehr, von all den Geschichten zu erzählen, die er zum Thema Corona zu hören bekommt. „Theater des Skurrilen“ nennt er es. „Das Krasse daran ist, dass es so viele Überschnei­dungen in allen Kulturen gibt. Dass uns allen 5-G-Antennen aus den Ohren wachsen, sowas hält sich verdammt hartnäckig.“

Noor sind nach einem Dreivierteljahr Beratungserfahrung ganz andere Dinge wichtig. „Einen Wissens­stand haben viele“, berichtet er. „Das Problem ist, dass sie nicht unterscheiden können, was wahr ist und was falsch von ihren Informationen.“ Damit habe aber weniger die Herkunft zu tun, vielmehr Bildung, sagt auch er. „Und manchmal geht es auch um die Scheu oder Scham, den eigenen Wissenstand preiszu­geben.“ Da setzt das Team ganz vorsichtig an, ohne erhobenen Zeigefinger, ohne Verbotslitanei.

Auch die Muttersprache kann Vertrauen schaffen. „Corona ist ja keine abstrakte Sache mehr“, sagt Noor. „Die Ein­schläge sind sehr real. Viele haben COVID-19 im Familien- oder Freundeskreis erlebt oder waren selbst krank.“ Die Hauptfrage sei immer: Wie gehe ich damit um?

Seit die Inzidenzen auch in Neukölln niedrig sind, hat das Team ein kleines Problem. Wer keine Tests mehr zum Shoppen braucht, lässt sich nun auch für Beratungen schwerer einfangen. Wenn es um ver­meint­liche Diskussionsköder wie die Sommerreise ins Ausland geht, kann Noor ganz schnell den Stecker ziehen. „Afghanistan ist jetzt nicht so das klassische Urlaubsland. Da ist seit 40 Jahren Krieg.“ Für die Türkei sei das aber schon etwas ganz anderes.

Dieses Differenzieren, das gilt für ihn überall. Auch bei all jenen, die ihm etwas von der „Plandemie“ erzählen, über das angeblich systematische Kaputtmachen der „Kleinen“ durch die „Großen“. Er hört es wieder und wieder, auch privat, beim Bäcker, beim Friseur, im Handyladen. Es ist Noor unheimlich, und doch hat er Hoffnung. Denn bei seinen Beratungen erlebt er kaum Ablehnung.

„Ich hätte viel mehr Skepsis erwartet“, berichtet er. Dieses Stereotyp von Antihaltungen in anderen Kultur­kreisen, das stimme einfach nicht. „Wir erfahren das Gegenteil.“ Ganz gleich, um welche Ethnie es gehe oder um welche religiöse Zugehörigkeit. „Die Leute wollen wissen, was Phase ist.“

Noor spürt wie ein kleiner Seismograph die Befindlichkeiten auf der Straße. Das Unbehagen über die vielen Verbote, die Impfmüdigkeit, die Verdrängung, den Übermut im Sommer. Was er noch nicht spürt, ist Erleichterung darüber, dass immer mehr Menschen immunisiert sind. Dass dadurch alles mal ein Ende haben könnte. „Eher ist es die Angst vor Delta“, sagt er. Die neue, anste­ckendere Variante, die nun auch in Deutschland dominiert. Prognosen über Impfquoten in Neukölln mag er lieber nicht abgeben.

Das Thema Impfen vor Ort ist mit einigen Monaten Verspätung nun auf der großen politischen Bühne Berlins angekommen. Amtsärzte, heißt es nun, sollten auch impfen, ganz bald. Und Anreize müsse es geben. Vielleicht sogar Geld? An die 50 Euro müssten es wohl schon sein für einen Piks, hat die Berliner Humboldt-Universität aus ihren Umfragen geschlossen. Amtsarzt Savaskan hält das für zuviel des Guten.

„Geld oder Einkaufsgutscheine würden in Neukölln wohl eher Skepsis auslösen“, sagt er. „Die Leute hier sind es nicht gewohnt, von Behörden Geld geschenkt zu bekommen. Sie würden sich fragen: Was will der Staat mir hier verkaufen?“

dpa

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