Ausland

Diskussion um Impfstoffversorgung nach Astra­zeneca-Lieferkürzung verschärft sich

  • Montag, 15. März 2021
/picture alliance, ZUMAPRESS.com, Dinendra Haria
/picture alliance, ZUMAPRESS.com, Dinendra Haria

Brüssel/Wien – Im Streit um Pannen bei der Coronabekämpfung hat die EU-Kommission Versäumnisse eingeräumt. „Es stimmt, dass bei der Bestellung der Impfstoffe sowohl in Brüssel als auch in den Mit­gliedstaaten Fehler gemacht wurden“, sagte EU-Kommissionsvize Frans Timmermans dem Tagesspiegel am Sonntag.

Selbstbewusst fügte er hinzu: „Ich bin bereit, am Ende der Pandemie eine Bilanz zu ziehen. Dann können wir ja sehen, was wir falsch und was wir richtig gemacht haben.“

Österreich und fünf andere EU-Staaten hatten zuvor die Bestellpolitik Brüssels kritisiert und auf hoher Ebene Gespräche in der Union über eine gerechtere Verteilung der Coronaimpfdosen verlangt. Das der­zeitige Bestellsystem würde „bis zum Sommer riesige Ungleichheiten unter Mitgliedsstaaten schaffen und vertiefen“, schrieben die Regierungschefs von Österreich, Bulgarien, Lettland, Slowenien und Tsche­chien an den EU-Ratspräsidenten Charles Michel und die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Kroatien schloss sich dem Vorstoß am vergangenen Samstag an.

Der Vizechef der FDP-Bundestagsfraktion Michael Theurer erklärte, von der Leyen, Bundeskanzlerin An­gela Merkel und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sollten Timmermans Beispiel folgen und „ihr eigenes Versagen unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft bei der Impfstoffbeschaffung genauso klar zugeben“. Das wäre „ein zumindest erster Schritt, um aus diesen historischen Fehlern für die Zukunft zu lernen“.

Timmermans erklärte, ein europäisches Vorgehen sei „auch im Interesse der reicheren Staaten“ wie Deutschland. Jetzt gehe es erstmal darum, „dass ganz Europa Impfstoff bekommt“. Die EU-Kommission hat von den vier in der EU zugelassenen Coronaimpfstoffen insgesamt mindestens 1,4 Milliarden Dosen für die rund 450 Millionen EU-Bürger geordert. Allerdings wird nicht wie erwartet geliefert und der Kommission werden zögerliches Handeln, strategische Fehler bei der Bestellung und ein ungerechtes Verteilsystem vorgeworfen.

Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte am vergangenen Freitag beklagt, dass Impfdosen nicht anteilig auf die EU-Staaten aufgeteilt würden und es zusätzliche Lieferverträge durch nicht trans­parente Verhandlungen in einer EU-Steuerungsgruppe gebe. Nach Angaben der EU-Kommission kann es zu Verschiebungen kommen, wenn nicht alle Länder gemäß ihrem Anteil bestellen. Nicht genutzte Kon­tingente könnten dann auf andere Mitgliedstaaten aufgeteilt werden.

Laut Kurz haben zum Beispiel die Niederlande und Dänemark Zugang zu wesentlich mehr Impfstoff pro Kopf als Länder wie Bulgarien oder Kroatien. Die sechs Regierungschefs kritisierten, dass diese Praxis der EU-Vereinbarung über eine anteilige Verteilung widerspreche. „Wir fordern Dich daher auf, Charles, so bald wie möglich eine Diskussion unter Staats-und Regierungschefs abzuhalten“, heißt es in dem Brief.

Die Niederlande und Malta wiesen die Wiener Vorwürfe zurück. Maltas Gesundheitsminister Chris Fearne sagte, die Impfstoffe für sein Land seien über den EU-Mechanismus beschafft worden. Das niederländi­sche Gesundheitsministerium erklärte: „Wir halten uns an die Absprachen.“ Die Niederlande nutzten den Spielraum aber „maximal“ aus und übernähmen ein Kontingent, wenn ein anderes Land darauf verzichte. Die Niederlande hatten als letztes EU-Land die Impfkampagne begonnen, holen aber inzwischen auf.

Ein weiteres Problem ist die Lieferfähigkeit von Astrazeneca. Am vegangenen Freitag hatte der Konzern angekündigt, statt 220 Millionen nur 100 Millionen Dosen bis zur Jahresmitte an die EU-Staaten liefern zu können. Das Unternehmen zeigte sich „enttäuscht“, die geplanten Impfstofflieferungen in die EU er­neut kürzen zu müssen. Astrazeneca arbeite „unermüdlich“ an einer Beschleunigung der Lieferungen. Bis Mitte des Jahres sollen demnach nur hundert Millionen Impfstoffdosen an die EU ausgeliefert werden.

Wegen Produktionsschwierigkeiten an Standorten in der EU hatte Astrazeneca angekündigt, Corona­impfstoffe aus Produktionsstandorten außerhalb der EU in die EU-Staaten zu exportieren. Aufgrund von Exportbeschränkungen würden die Lieferungen im ersten Quartal nun aber reduziert, hieß es in der Erklärung.

„Wahrscheinlich“ seien auch die geplanten Lieferungen für das zweite Quartal betroffen. „Trotz der Heraus­forderungen“ plane das Unternehmen, in der ersten Jahreshälfte hundert Millionen Impfstoff­dosen an die EU auszuliefern, darunter 30 Millionen während des ersten Quartals bis Ende März.

Die EU hat bei Astrazeneca bis zu 400 Millionen Dosen seines Coronaimpfstoffs bestellt. Bereits zu Jahresbeginn hatte es zwischen Brüssel und dem Unternehmen Streit um das Tempo der Impfstoff­lieferungen gegeben. Das Unternehmen hatte damals bekanntgegeben, wegen Problemen in einem Werk in Belgien im ersten Quartal deutlich weniger Impfstoff liefern zu können als vorgesehen. Die EU reagierte verärgert, weil Astrazeneca Großbritannien und andere Nicht-EU-Länder offenbar weiterhin mit ungekürzten Mengen belieferte.

Später sagte das Unternehmen dann aber zu, der EU doch mehr Dosen zu liefern. Die EU-Kommission teilte vorgestern mit, sie habe die Lieferprobleme von Astrazeneca zur Kenntnis genommen. Die Gespräche mit dem Unternehmen dauerten an. „Wir bestehen darauf, dass das Unternehmen alles tut, um seine Verpflichtungen einzuhalten.“

Als Konsequenz drohte der Chef der Konservativen im EU-Parlament, Manfred Weber (CSU), Astrazeneca mit einem Exportstopp. „Es entsteht der Eindruck, dass andere Länder gegenüber der EU bevorzugt werden“, sage Weber der Welt am Sonntag. Solange Astrazeneca seine Zusagen nicht erfülle, „sollte die EU einen grundsätzlichen Exportstopp von in der EU produzierten Impfstoffdosen des Unternehmens verhängen“.

Am späten Nachmittag wurde bekannt, dass in Deutschland das Impfen mit Astrazeneca vorsorglich ganz ausgesetzt wird. Die Bundesländer stoppten daraufhin das Impfen mit dem Vakzin. Hintergrund ist eine Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI).

dpa/afp

Diskutieren Sie mit:

Diskutieren Sie mit

Werden Sie Teil der Community des Deutschen Ärzteblattes und tauschen Sie sich mit unseren Autoren und anderen Lesern aus. Unser Kommentarbereich ist ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten.

Anmelden und Kommentar schreiben
Bitte beachten Sie unsere Richtlinien. Der Kommentarbereich wird von uns moderiert.

Es gibt noch keine Kommentare zu diesem Artikel.

Newsletter-Anmeldung

Informieren Sie sich täglich (montags bis freitags) per E-Mail über das aktuelle Geschehen aus der Gesundheitspolitik und der Medizin. Bestellen Sie den kostenfreien Newsletter des Deutschen Ärzteblattes.

Immer auf dem Laufenden sein, ohne Informationen hinterherzurennen: Newsletter Tagesaktuelle Nachrichten

Zur Anmeldung