Erstmals bewertet eine Leitlinie die Fahrtauglichkeit bei Diabetes in Europa

Berlin – Mit der neuen S2e-Leitlinie „Diabetes und Straßenverkehr“ legt die Deutsche Diabetes-Gesellschaft (DDG) erstmals eine wissenschaftlich fundierte Bewertung der Fahrtauglichkeit bei Diabetes vor. Die Leitlinie gibt nicht nur Patienten, Ärzten, Psychologen und Diabetesberatern klare Handlungsempfehlungen. Auch Verkehrsmediziner, Behörden und Versicherungsfachleute können sich daran orientieren. Zudem verschafft sie Ärzten und Patienten zusätzliche Rechtssicherheit.
Bislang gab es keine anerkannten medizinisch-wissenschaftlichen Grundsätze zur Bewertung der Fahreignung bei Diabetes. „Damit bestand eine erhebliche haftungsrechtliche Grauzone für Ärzte und Behandlungspersonal“, erläuterte Rechtsanwalt Oliver Ebert heute in Berlin. Gutachter hätten bisher viel Spielraum gehabt. „Jetzt müssen sie sich im Zweifel rechtfertigen, wenn sie von der Leitlinie abweichen“, sagte der Koordinator und Mitautor der Leitlinie und Vorsitzender des Ausschusses Soziales der DDG.
So wurde häufig die Meinung vertreten, insulinpflichtige Patienten könnten nicht mehr als Busfahrer oder Lkw-Fahrer arbeiten oder ein hoher Langzeitblutzuckerwert stelle einen Grund zur Verweigerung des Führerscheins dar (siehe Fallbeispiel Kasten). Dies treffe nicht zu, sagte Reinhard Holl, Epidemiologe der Universität Ulm und ebenfalls Koordinator und Mitautor der Leitlinie: Fast alle Diabetespatienten können am Straßenverkehr teilnehmen, sowohl im Privat-Pkw als auch beruflich als Busfahrer, im Lastwagen oder Taxi. „Die Unfallhäufigkeit bei Menschen mit Diabetes ist mit 10 % nur unwesentlich erhöht“, berichtete Holl. Schlafapnoe würde das Unfallrisiko beispielsweise um 200 % steigern und eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) gehe sogar mit einer Risikosteigerung um 400 % einher.
Empfehlungen für ein ärztliches Fahrverbot
Wichtige Gründe, die Fahreignung zu verlieren, werden in der Leitlinie benannt. „Ein Fahrverbot sollten Ärzte dann aussprechen, wenn 2 oder mehr schwere Unterzuckerungen im Wachzustand pro Jahr auftreten oder eine unbehandelte Schlafapnoe vorliegt“, sagte Holl.
Des Weiteren muss der Arzt die Beeinträchtigung der Fahreignung durch Begleiterkrankungen berücksichtigen. Bei peripheren Polyneuropathien können schwere Funktionsstörungen auftreten, die die Sicherheit der Benutzung der Pedale beeinträchtigen, heißt es in der Leitlinie. Auch bei Sehstörungen, dem diabetischen Fuß, Amputationen, Prothesen oder symptomatischen Herzrhythmusstörungen im Rahmen einer autonomen Neuropathie sollte eine fachärztliche Untersuchung zur Klärung der Fahrsicherheit erfolgen.
„Ein Arzt, der sich an diese wissenschaftlich abgesicherten Empfehlungen hält, muss grundsätzlich keine Haftung befürchten“, betonte Ebert. Wenn Ärzte ein ‚ärztliches Fahrverbot‘ aussprechen und Verhaltensvorgaben machen, sollten sie diese auch in der Patientenakte dokumentieren, fügt der Rechtsanwalt hinzu (siehe Kasten). Es reicht dabei nicht aus, dem Patienten einen schriftlichen Aufklärungsbogen vorzulegen oder ihn unterzeichnen zu lassen. Ein mündliches Aufklärungsgespräch ist unverzichtbar.
Eine vorübergehende Fahruntauglichkeit liegt bei schweren Stoffwechselentgleisungen, in der Einstellungsphase auf Insulin, aber auch bei anderen wichtigen Therapieumstellungen oder Dosisänderungen vor – sie gilt, bis der Blutzuckerstoffwechsel stabil ist.
Die Leitlinie zeigt auch Möglichkeiten auf, die Gefahr von Unterzuckerungen zu verringern und die Fahrtauglichkeit damit wiederzuerlangen – etwa durch eine Medikamentenumstellung, Wahrnehmungsschulungen oder eine kontinuierliche Glukosemessung mit akustischer Warnfunktion. Außerdem gibt die Leitlinie praktische Tipps zur Erhöhung der Verkehrssicherheit.
Am Ende profitieren auch Begutachter von der Leitlinie. Zwar gibt auch die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) eine „Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung“ heraus, die unmissverständlich klarstellt, dass „gut eingestellte und geschulte“ Menschen mit Diabetes sowohl Pkw als auch Lkw sicher führen können. Diese sei in vielen Punkten aber nicht sehr detailliert, erklärte Martina Albrecht von der BASt.
Die Leitlinie gebe hier viel konkretere Handlungshinweise, beispielsweise was genau eine stabile Stoffwechsellage bedeutet, sagte die Referatsleiterin Fahreignung, Fahrausbildung, Kraftfahrrehabilitation. „Zum Fahrerlaubnisentzug kommt es aufgrund einer Krankheit tatsächlich eher selten“, so Albrecht. Bei 40.000 Fahrerlaubnisentzügen im Jahr 2014 wurden etwa 1.000 aufgrund körperlicher Mängel verordnet. Die meisten Autofahrer würden eigenverantwortlich handeln und sich bei körperlicher Beeinträchtigung nicht mehr hinters Steuer setzen, begründete Albrecht.
Auch bei anderen Krankheiten wären Leitlinien zur Fahrtauglichkeit wünschenswert, sagte Albrecht. Die Kardiologen haben kürzlich ein umfangreiches Positionspapier publiziert. In welchen anderen Fachgebieten eine vergleichbare Leitlinie dringend nötig wäre, wollte Albrecht aber nicht verraten.
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