Ethikrat legt Empfehlungen zur Bewältigung der Pandemie vor
Berlin – Die derzeitigen massiven staatlichen Freiheitsbeschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie hält der Deutsche Ethikrat momentan für gerechtfertigt. In seiner heute veröffentlichten Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Coronakrise“ fordert das interdisziplinär besetzte Gremium jedoch die Politik auf, diese Regelungen kontinuierlich mit Blick auf die gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Folgen zu prüfen und möglichst bald schrittweise zu lockern.
Momentan empfiehlt der Ethikrat das weitere Aufstocken der Kapazitäten des Gesundheitssystems sowie ein flächendeckendes System zur Erfassung und optimierten Nutzung von Intensivkapazitäten. Bürokratische Hürden müssten abgebaut, die Vernetzung im Gesundheitssystem und mit anderen relevanten Gesellschaftsbereichen verbessert werden, meinen die Mitglieder.
Insgesamt geht es dem Rat mit seinen Empfehlungen aber auch darum, Politik und Gesellschaft dafür zu sensibilisieren, mögliche „Konfliktszenarien auch als normative Probleme“ zu verstehen. Anstehende Entscheidungen könnten und dürften nicht allein auf (natur-)wissenschaftlicher Basis erfolgen, warnt der Rat. Wissenschaftliche Beratung der Politik sei wichtig, könne und dürfe diese aber nicht ersetzen.
„Gerade schmerzhafte Entscheidungen müssen von den Organen getroffen werden, die hierfür durch das Volk mandatiert sind und dementsprechend auch in politischer Verantwortung stehen“, betonte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock.
Ärzte bei Entscheidung entlasten
Gleichzeitig sollte die Verantwortung, in „Situationen katastrophaler Knappheit medizinischer Ressourcen über Leben und Tod zu entscheiden“, keinesfalls allein den einzelnen Ärzten aufgebürdet werden. Es bedürfe „weithin einheitlicher Handlungsmaximen für den klinischen Ernstfall nach wohlüberlegten, begründeten und transparenten Kriterien“, meinte der Ethikrat und verwies in diesem Zusammenhang auf die gestern erschienenen Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften.
Sollten Triage-Situationen eintreten, dürfe der Staat nach Auffassung des Rates menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation zu retten ist. Selbst in Ausnahmezeiten eines flächendeckenden und katastrophalen Notstands habe er nicht nur die Pflicht, möglichst viele Menschenleben zu retten, sondern auch und vor allem die Grundlagen der Rechtsordnung zu garantieren.
„Jede unmittelbare oder mittelbare staatliche Unterscheidung nach Wert oder Dauer des Lebens und jede damit verbundene staatliche Vorgabe zur ungleichen Zuteilung von Überlebenschancen und Sterbensrisiken in akuten Krisensituationen ist unzulässig“, heißt es in der Stellungnahme des Ethikrates.
Damit seien nicht nur Differenzierungen aufgrund des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft untersagt. Auch eine Klassifizierung anhand des Alters, der sozialen Rolle und ihrer angenommenen „Wertigkeit“ oder einer prognostizierten Lebensdauer müsse seitens des Staates unterbleiben. „Jedes menschliche Leben genießt den gleichen Schutz“, betont das Gremium.
Der Rat sieht eine „Primärverantwortung“ der Medizin − ohne den einzelnen Arzt zu belasten. Problematisch seien dabei aber besonders Situationen, in denen die Versorgung abgebrochen werde, um einen anderen Patienten mit höheren Überlebenschancen zu retten. „Wenn zu wenig Beatmungsplätze da sind, dürfen nur medizinische Kriterien zählen“, erläuterte Dabrock.
Der Deutsche Ethikrat forderte die Politik auf, so lange wie möglich Situationen mit dem Zwang zur Entscheidung über eine Behandlungsrangfolge von COVID-19-Patienten zu vermeiden. Dabei befürwortet er die aktuell zur Eindämmung der Infektionen ergriffenen Maßnahmen.
Einen „ethischen Kernkonflikt" sieht das Gremium aber darin, dass ein dauerhaft leistungsfähiges Gesundheitssystem gesichert werden müsse und zugleich schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft möglichst geringgehalten werden müssten. Dem Schutz menschlichen Lebens dürften nicht „alle anderen Freiheits- und Partizipationsrechte sowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos untergeordnet werden“.
„In dieser Krise ungekannten Ausmaßes können wir uns glücklich schätzen, so große Solidaritätsressourcen in unserer Gesellschaft zu besitzen", erklärte Dabrock. „Wir müssen aber ehrlich sein: Auch mit diesen Ressourcen gilt es sorgsam umzugehen und Spannungen zwischen unterschiedlichen Ansprüchen bedürftiger Gruppen fair auszuhandeln."
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