Politik

Ethikrat legt Empfehlungen zur Bewältigung der Pandemie vor

  • Freitag, 27. März 2020

Berlin – Die derzeitigen massiven staatlichen Freiheitsbeschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie hält der Deutsche Ethikrat momentan für gerechtfertigt. In seiner heute veröffentlichten Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona­krise“ fordert das interdisziplinär besetzte Gremium jedoch die Politik auf, diese Regelun­gen kontinuierlich mit Blick auf die gesellschaftlichen, sozialen und ökono­mischen Fol­gen zu prüfen und möglichst bald schrittweise zu lockern.

Momentan empfiehlt der Ethikrat das weitere Aufstocken der Kapazitäten des Gesund­heits­systems sowie ein flächendeckendes System zur Erfassung und optimierten Nutzung von Intensivkapazitäten. Bürokratische Hürden müssten abgebaut, die Vernetz­ung im Ge­sundheitssystem und mit anderen relevanten Gesellschaftsbereichen verbessert werden, meinen die Mitglieder.

Insgesamt geht es dem Rat mit seinen Empfehlungen aber auch darum, Politik und Ge­sellschaft dafür zu sensibilisieren, mögliche „Konfliktszenarien auch als normative Prob­leme“ zu verstehen. Anstehende Entscheidungen könnten und dürften nicht allein auf (natur-)wissenschaftlicher Basis erfolgen, warnt der Rat. Wissenschaftliche Beratung der Politik sei wichtig, könne und dürfe diese aber nicht ersetzen.

„Gerade schmerzhafte Entscheidungen müssen von den Organen getroffen werden, die hierfür durch das Volk mandatiert sind und dementsprechend auch in politischer Verant­wortung stehen“, betonte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock.

Ärzte bei Entscheidung entlasten

Gleichzeitig sollte die Verantwortung, in „Situationen katastrophaler Knappheit medizi­nischer Ressourcen über Leben und Tod zu entscheiden“, keinesfalls allein den einzelnen Ärzten aufgebürdet werden. Es bedürfe „weithin einheitlicher Handlungs­maximen für den klinischen Ernstfall nach wohlüberlegten, begründeten und transpa­renten Kriterien“, meinte der Ethikrat und verwies in diesem Zusammenhang auf die gestern erschienenen Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften.

Sollten Triage-Situationen eintreten, dürfe der Staat nach Auffassung des Rates menschli­ches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation zu retten ist. Selbst in Ausnahmezeiten eines flächen­deckenden und katastrophalen Notstands habe er nicht nur die Pflicht, möglichst viele Menschenleben zu retten, sondern auch und vor allem die Grundlagen der Rechts­ordnung zu garantieren.

„Jede unmittelbare oder mittelbare staatliche Unterscheidung nach Wert oder Dauer des Lebens und jede damit verbundene staatliche Vorgabe zur ungleichen Zuteilung von Überlebenschancen und Sterbensrisiken in akuten Krisensituationen ist unzulässig“, heißt es in der Stellungnahme des Ethikrates.

Damit seien nicht nur Differenzierungen aufgrund des Geschlechts oder der ethnischen Herkunft untersagt. Auch eine Klassifizierung anhand des Alters, der sozialen Rolle und ihrer angenommenen „Wertigkeit“ oder einer prognostizierten Lebensdauer müsse seitens des Staates unterbleiben. „Jedes menschliche Leben genießt den gleichen Schutz“, betont das Gremium.

Der Rat sieht eine „Primärverantwortung“ der Medizin − ohne den einzelnen Arzt zu be­las­ten. Problematisch seien dabei aber besonders Situationen, in denen die Versor­gung abgebrochen werde, um einen anderen Patienten mit höheren Überlebenschancen zu retten. „Wenn zu wenig Beatmungsplätze da sind, dürfen nur medizinische Kriterien zäh­len“, erläuterte Dabrock.

Der Deutsche Ethikrat forderte die Politik auf, so lange wie möglich Situationen mit dem Zwang zur Entscheidung über eine Behandlungsrangfolge von COVID-19-Patienten zu ver­meiden. Dabei befürwortet er die aktuell zur Eindämmung der Infektionen ergriffenen Maßnahmen.

Einen „ethischen Kernkonflikt" sieht das Gremium aber darin, dass ein dauerhaft leis­tungs­­fähiges Gesundheitssystem gesichert werden müsse und zugleich schwerwie­gende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft möglichst geringgehalten werden müss­ten. Dem Schutz menschlichen Lebens dürften nicht „alle anderen Freiheits- und Partizi­pationsrechte sowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos unterge­ordnet werden“.

„In dieser Krise ungekannten Ausmaßes können wir uns glücklich schätzen, so große Solidaritätsressourcen in unserer Gesellschaft zu besitzen", erklärte Dabrock. „Wir müssen aber ehrlich sein: Auch mit diesen Ressourcen gilt es sorgsam umzugehen und Spann­ungen zwischen unterschiedlichen Ansprüchen bedürftiger Gruppen fair auszuhandeln."

ER

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