Fast jede zweite neue Frühverrentung ist psychisch bedingt

Berlin – Rund 75.000 Versicherte bezogen 2012 erstmals eine Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund psychischer Erkrankungen. Fast jede zweite neue Frührente ist inzwischen psychisch verursacht (42 Prozent). Das ermittelte die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) in einer neuen Studie zur Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit: „Psychische Erkrankungen und gesundheitsbedingte Frühverrentung“. Die Betroffenen sind durchschnittlich 49 Jahre alt. „Wir denken, das ist viel zu früh. Psychische Erkrankungen müssten nicht so häufig dazu führen, dass das Erwerbsleben der Betroffenen durchschnittlich ein Drittel kürzer ist“, sagte der Präsident der BPtK, Rainer Richter, bei der Vorstellung der Studie am Dienstag in Berlin.
Der Studie zufolge haben seit 2001 vor allem Depressionen (plus 96 Prozent), Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (plus 74 Prozent) sowie Suchterkrankungen (plus 49 Prozent) als Grund für Frühverrentung zugenommen. „Psychisch bedingte Frührenten könnten häufiger vermieden werden. Es mangelt an Behandlungsplätzen für psychisch kranke Menschen, aber auch an ausreichenden und für sie maßgeschneiderten Rehabilitationsleistungen“, kritisierte Richter.
Psychische Erkrankungen sind immer häufiger die Ursache für Krankschreibungen von Arbeitnehmern, gleich nach Muskel-Skelett-Erkrankungen. Auch 2012 stiegen sowohl der Anteil der Arbeitsunfähigkeits(AU)-Fälle als auch der Anteil der betrieblichen AU-Tage, der psychisch bedingt ist. Der Anteil psychisch bedingter AU-Tage hat sich von 2000 bis 2012 fast verdoppelt (plus 96 Prozent), ermittelte die BPtK anhand von Krankenkassendaten.
Inzwischen gehen knapp 14 Prozent aller betrieblichen Fehltage auf psychische Erkrankungen zurück. Diese Zunahme sei vor allem auf die immer längere Dauer der Krankschreibungen zurückzuführen. 2012 fehlte ein psychisch erkrankter Arbeitnehmer durchschnittlich 34 Tage.
Zu wenig zugeschnittene Rehabilitationsleistungen
Wegen psychischer Erkrankungen müssen Arbeitnehmer häufig weit vor dem gesetzlichen Rentenalter aus dem Erwerbsleben ausscheiden, so die BPtK. „Das liegt auch daran, dass die Betroffenen zu selten oder nicht auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Rehabilitationsleistungen erhalten, die ihnen die Rückkehr ins Arbeitsleben ermöglichen könnten“, so Präsident Richter.
Jeder zweite psychisch kranke Frührentner erhielt in den fünf Jahren vor dem Rentenbescheid keine Reha-Leistung. Weniger als zehn Prozent dieser Frührentner wurden eine medizinische oder berufliche Rehabilitation empfohlen. Die Zahl der Reha-Maßnahmen ist nicht im gleichen Maß gestiegen wie die Zahl der Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer Erkrankungen. Im Jahr 2011 waren psychische Erkrankungen für rund 40 Prozent der neuen Frührenten verantwortlich. Aber nur 20 Prozent der Reha-Leistungen wurden für Menschen mit psychischen Erkrankungen eingesetzt.
Zwischen Kranken- und Rentenversicherung
Psychisch Kranke gerieten zudem oftmals „in ein Hin-und-Her-Geschiebe zwischen Kranken- und Rentenversicherung“, so Richter. „Gerade psychische Kranke sind damit überfordert.“ Die Krankenkasse könne Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet oder gemindert ist, aktiv auffordern, einen Reha-Antrag zu stellen. Wenn aber der Gutachter einer Reha keine „Erfolgsprognose“ bescheinige, werde der Reha-Antrag automatisch zu einem Rentenantrag.
„Das ist eine Regelung, die die Misere, die in die Frühverrentung führt, unnötig verstärkt“, kritisierte Richter. Circa die Hälfte der Rentenanträge werde bewilligt. Werden Krankenversicherte zu Frührentnern, entfällt ihr Anspruch auf Krankengeld. „Wir haben den Eindruck, dass hier zwei Sozialversicherungen nicht an einem Strang ziehen, um psychisch Kranken zu helfen, wieder zu gesunden und arbeitsfähig zu werden“, befand der BPtK-Präsident.
Denn Arbeit sei auch eine wichtige gesundheitliche Ressource. „Durch Arbeit erfahren wir wichtige Bestätigung unseres Selbstwertes und erleben, für die Gesellschaft nützlich zu sein“, so Richter. Diese stärkenden Faktoren fehlten Frührentnern und Arbeitslosen. So seien Langzeitarbeitslose überdurchschnittlich häufig psychisch: 37 Prozent der Hartz-IV-Empfänger (Arbeitslosengeld II) sind psychisch krank, im Vergleich zu 22 Prozent der Berufstätigen.
Gerade bei depressiv erkrankten Menschen sei es deshalb wichtig, sie fachgerecht zu behandeln und beim Wiedereinstieg in das Arbeitsleben zu unterstützen, statt sie vorzeitig in Rente zu schicken, so Richter. Die häufigste Erkrankung, die zur Frühverrentung führt, ist die Depression.
Reha vor Rente
Die Bundespsychotherapeutenkammer leitet aus ihrer Studie politischen Handlungsbedarf ab. Sie fordert eine bessere betriebliche Prävention und Früherkennung von psychischen Erkrankungen, den Abbau der Wartezeiten in der ambulanten Psychotherapie, mehr Behandlungsplätze für psychisch Kranke sowie eine bessere Abstimmung zwischen Kuration und Rehabilitation. Der Grundsatz „Reha vor Rente“ müsse stärker befolgt werden. Reha-Leistungen für psychisch kranke Menschen müssten angepasst und bedarfsorientiert ausgebaut werden.
Der gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jens Spahn (CDU), versicherte, die starke Zunahme psychischer Erkrankungen werde „sehr ernst” genommen. So sollten die betriebliche Gesundheitsförderung ausgebaut und die zu langen Wartezeiten auf eine Therapie verkürzt werden.
Die Grünen-Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmeink kritisierte, die Zahlen belege Versäumnisse der vorherigen schwarz-gelben Bundesregierung. Die große Koalition lasse „immerhin erkennen, dass sie aktiv werden möchte”. Klein-Schmeink forderte ein Gesamtkonzept für die Versorgung psychisch Kranker.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) mahnte, psychische Erkrankungen nicht einseitig auf Arbeit zurückzuführen. „Natürlich kann auch die Berufstätigkeit eine Rolle bei der Entstehung psychischer Erkrankungen spielen, sie ist aber nachweislich nie alleinige Ursache”, erklärte der Verband. Der BDA forderte zugleich, die Versorgung psychisch Erkrankter zu verbessern.
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