Gesundheitsausschuss: Experten uneinig über Ausschluss der Ex-Post-Triage

Berlin – Expertinnen und Experten haben die vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) vorgelegte Regelung für den Fall einer Verknappung lebensnotwendiger medizinischer Versorgung in Notfällen unterschiedlich bewertet. Die Regelung soll eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung verhindern.
Bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes waren sich die etwa 70 eingeladenen Sachverständigen heute weitgehend einig, dass die Vermeidung solcher Mangelsituationen Vorrang haben müsse. Demnach sollte etwa für den Fall von Pandemien zuallererst für genügend Ressourcen in der Intensivmedizin gesorgt werden.
Deutliche Unterschiede zeigten sich bei der Bewertung der Kriterien für die Auswahl von Patientinnen und Patienten in Mangelsituationen. Auch das Verbot der sogenannten Ex-Post-Triage ist umstritten – wenn also eine laufende intensivmedizinische Behandlung zugunsten eines Patienten mit besseren Überlebenschancen abgebrochen wird.
Hintergrund des Gesetzentwurfs ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Dezember 2021. In dieser hatte das Gericht den Gesetzgeber dazu aufgefordert, unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderung bei sogenannten Triageentscheidungen zu treffen.
Laut Entwurf soll bei der Entscheidung über die Zuteilung nur die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit den Ausschlag geben. Weitere Erkrankungen dürfen nur eingeschränkt berücksichtigt werden. Kriterien wie Alter, Behinderung und Gebrechlichkeit dürfen nicht herangezogen werden, sofern sie nicht kurzfristig Einfluss haben. Die Entscheidungen müssen zwei Ärzte unabhängig voneinander treffen.
Der Experte der Bundesärztekammer (BÄK), Johannes Albert Gehle, betonte, dass die Triage oft rasche Entscheidungen verlange, die nicht alle Regelungen berücksichtigen könne. Die BÄK kritisierte insbesondere den Ausschluss der Ex-Post-Triage.
Es gehe nicht um ein „Nachhinein“, sondern die Überlebenswahrscheinlichkeit könne sich vielmehr während der intensivmedizinischen Behandlung ändern, sagte Intensivmediziner Gehle. Deshalb sei eine ständige Re-Evaluierung des Zustandes von Patienten nötig. Das Prinzip „First come, first served“ lehne die BÄK deshalb ab.
Die BÄK hatte in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf zudem erklärt, dass neben der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten auch die ärztliche Indikation und der Patientenwille“ im Gesetz zur Entscheidung über knappe Ressourcen mitberücksichtigt werden sollte.
Keine Ex-Post-Triage könnte vulnerable Gruppen sogar mehr gefährden
Georg Marckmann von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zeichnete voraussichtliche Probleme bei der Einführung eines solchen Gesetzes ab. Er halte zwar die Zuteilung aufgrund der Überlebenswahrscheinlichkeit für ein gutes Kriterium, allerdings sei die Anwendungsbedingung problematisch. „Der Ausschluss der Ex-Post Triage macht es eigentlich unmöglich dieses Kriterium wirklich verlässlich anzuwenden“, sagte der Ethiker und Mediziner.
„Das hat Konsequenzen insbesondere für vulnerable Patientengruppen, insofern muss man sagen, dass der aktuelle Gesetzentwurf eigentlich seinen Zweck nicht erfüllt, nämlich vulnerable Patientengruppen zu schützen“, so Marckmann.
Denn zum einen könne man vor Beginn der Intensivtherapie die Überlebenswahrscheinlichkeit einer Person nur mit sehr großer Unsicherheit einschätzen. Und: Personen, die eine gleiche Erkrankung hätten, müssten auch erst einmal intensivmedizinisch behandelt werden, um verlässlicher einzuschätzen, wie hoch die Überlebenswahrscheinlichkeit dieser Person sei.
Mit der Einführung des aktuellen Gesetzentwurfs ohne die Möglichkeit der Ex-Post-Triage werde man aber sogar mehr Todesfälle haben, prognostizierte Marckmann. Dann würden Menschen sehr lange Intensivbetten belegen und für alle nachfolgenden würde es schwierig sein, intensivmedizinische Behandlungen zu bekommen.
Dieses Vorgehen diskriminiere aber vor allem ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen oder mit Vorerkrankungen, die oft verstärkt auf die Intensivstationen angewiesen seien. „Eigentlich kehrt der Ausschluss der Ex-Post-Triage den Sinn des Gesetzes in das Gegenteil“, so Marckmann.
Keine juristische Sicherheit für Ärzte
Viele Ärztinnen und Ärzte machten sich gerade große Sorgen, dass sie in entsprechenden Situationen mit Fragen eines Totschlags konfrontiert werden würden, sagte Uwe Janssens von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).
Sollte das Gesetz tatsächlich die Ex-Post-Triage ausschließen, sei keine juristische Sicherheit für die Ärzteschaft gegeben. Deshalb seien entsprechende Nachschärfungen und Klarstellungen im Gesetzestext gefordert, damit künftig „Rechtssicherheit für medizinisch korrektes patientenzentriertes Handeln“ gegeben ist, betonte Janssens.
Die Wohlfahrts- und Sozialverbände sowie die katholische Kirche begrüßten hingegen den Ausschluss der Ex-post-Triage. Sie sei ethisch wie juristisch abzulehnen, betonte das Katholische Büro als Vertretung der Bischöfe bei der Bundesregierung. Nach Einschätzung von Siiri Ann Doka von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe ist sie für Patienten wie Angehörige extrem belastend und kann rechtlich als „Totschlag“ bewertet werden.
Der Deutsche Caritasverband begrüßte die verpflichtende Einbindung von Personen mit Fachexpertise bei der Entscheidung. Er sprach sich dafür aus, auch eine "Randomisierung" also Zufallsentscheidung etwa nach Losverfahren zu nutzen, um Diskriminierungen auszuschließen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte (DMI) forderte Verstöße gegen die Diskriminierung ebenso zu sanktionieren wie die Dokumentations- oder Berichtspflicht.
Diskussion um Befristung des Gesetzes
Auch Arne Frankenstein, Landesbehindertenbeauftragter der Freien Hansestadt Bremen, sprach sich für den Ausschluss der Ex-Post-Triage aus verfassungsrechtlichen Gründen aus. Er betonte zudem, dass sie weiter explizit verboten werden sollte und entsprechende Strafen im Infektionsschutzgesetz oder im Strafgesetzbuch geregelt werden sollten. Er sprach sich zudem dafür aus, das Gesetz zeitlich etwa für ein Jahr zu befristen und nach diesem Zeitraum die Wirkung wissenschaftlich zu evaluieren.
Der Rechtsexperte Helmut Frister von der Universität Düsseldorf hingegen warnte vor einer Befristung des Gesetzes, denn das Bundesverfassungsgericht habe eine entsprechende Regelung explizit gefordert, diese dürfe nach einem Jahr nicht einfach auslaufen. Nichtsdestotrotz könne eine Evaluationsregelung eingeführt werden, so Frister.
Alexander Ahrens von der Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland kritisierte, dass bei diesem Gesetzgebungsprozess nicht von Anfang an Menschen mit Behinderungen beteiligt worden sind. Er betonte zudem, dass Behinderungen nicht mit Krankheiten gleichzusetzen seien. Trotzdem würden Betroffene jeden Tag in Arztpraxen oder im Krankenhaus entsprechend diskriminiert werden, so Ahrens. Er forderte hier mehr Sensibilität und einen verstärkten Fokus in den Ausbildungen sowie Fort- und Weiterbildungen.
Auch für Beauftragte für Antidiskriminierung geht Entwurf nicht weit genug
Die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, begrüßt den vorliegenden Gesetzentwurf heute. „Ich halte es für gut und richtig, dass der Gesetzentwurf ein Diskriminierungsverbot festschreibt, wenn es zu intensivmedizinischen Zuteilungsentscheidungen kommt“, sagte Ataman.
Es sei aber fraglich, ob der Gesetzentwurf in dieser Form ausreiche, um dem Diskriminierungsrisiko betroffener Gruppen effektiv entgegenzuwirken. So müsse beispielsweise das intensivmedizinische Personal bei der Ausbildung und Sensibilisierung zu behinderungsspezifischen Besonderheiten besser unterstützt werden, so Ataman. Der Regelungsentwurf trage diesem Aspekt zu wenig Rechnung.
Sie fordert deshalb entsprechende Anpassungen, wie die Ausbildungsordnungen der medizinischen Studiengänge sowie Fort- und Weiterbildung in Medizin und Pflege um behinderungs- und altersspezifische Besonderheiten ergänzt werden können. Zudem brauche es eine externe und unabhängige Prüfstelle, um gesetzliche Vorhaben und deren sachgerechte und transparente Umsetzung zu überprüfen. Hier könnten etwaige Triage-Situationen in Krankenhäusern und die im Entwurf vorgesehenen Verfahrensanweisungen der Kliniken evaluiert werden.
Aufgrund der Uneinigkeit bezüglich des Gesetzentwurfs meldeten sich heute zudem Stimmen aus dem Parlament, den Gesetzentwurf zunächst zurückzuziehen. „Die Anhörung hat derart viele Mängel und Schwächen aufgezeigt, dass ein Zurückziehen des Gesetzentwurfes und die Vorlage eines überzeugenden neuen Entwurfes die beste Lösung wäre", sagte Bundestagsabgeordneter Hubert Hüppe (CDU).
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