Großer Nachholbedarf bei Förderung gesunder Lebensweisen in Deutschland

Berlin – Deutschland gehört einer Untersuchung zufolge zu den Ländern, in denen besonders wenig wissenschaftlich empfohlene Präventionsmaßnahmen umgesetzt sind. In einer heute vorgestellten Rangliste von 18 untersuchten Ländern in Nord- und Zentraleuropa landet Deutschland auf dem vorletzten Platz.
Das geht aus dem sogenannten Public Health Index von AOK-Bundesverband und Deutschem Krebsforschungszentrum (DKFZ) hervor. Darin werden die Handlungsfelder Tabak, Alkohol, Ernährung und Bewegung bewertet, also wichtigen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und weitere nicht übertragbare Erkrankungen. Diese seien auch Haupttreiber der vorzeitigen Sterblichkeit in Deutschland, hieß es.
„Insbesondere bei der Umsetzung empfohlener Maßnahmen zur Förderung gesunder Ernährung sowie zur Eindämmung des Tabak- und Alkoholkonsums ist Deutschland im internationalen Vergleich zögerlich“, heißt es im Bericht. Großbritannien, Finnland und Irland bilden die Gruppe der Spitzenreiter. Je mehr empfohlene Präventionsmaßnahmen Länder umsetzen, desto mehr Punkte erhielten sie.
Als Beispiele für weitergehende Maßnahmen in anderen Ländern wurden etwa zeitliche Verkaufsbegrenzungen, Werbeverbote und höhere Altersgrenzen zum Beispiel für den Kauf von Alkohol genannt. In Irland seien Raucherkneipen seit 20 Jahren Geschichte, sagte Oliver Huizinga, Abteilungsleiter Prävention im AOK-Bundesverband und Mitautor. Beim Thema Ernährung wurden unter anderem der Umgang mit an Kinder gerichteter Lebensmittelwerbung und mit Qualitätsstandards für die Schulverpflegung betrachtet.
Für Tabak und Alkohol griffen die Autoren auf bereits bestehende Kontrollskalen zurück, für die anderen Felder wurden neue Beurteilungsinstrumente entwickelt. Bei der Bewegungsförderung wird hervorgehoben, dass das Feld anders als Alkohol oder Tabak durch „weiche Instrumente wie Empfehlungen, Beratung und Vernetzung“ geprägt sei, was die quantitative Bewertung und den Vergleich mit den anderen Handlungsfeldern erschwere. Bei dem Aspekt schneidet Deutschland im Vergleich zu den anderen drei Bereichen etwas besser ab: im Mittelfeld der verglichenen Länder.
Forderung nach Lösungen außerhalb des Sozialgesetzbuchs V
Die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Carola Reimann, betonte bei der Vorstellung des Index das Missverhältnis zwischen Deutschlands hohen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben und den im Vergleich schlechten Ergebnissen bei der Lebenserwartung. Hinzu komme, dass bei jüngeren Erwachsenen (ab 1975 Geborene) sogar mehr Jahre mit beeinträchtigter Gesundheit als bei deren Elterngeneration zu erwarten seien. Treiber dafür seien Adipositas und Typ-2-Diabetes.
Reimann fordert daher mehr Verhältnisprävention. Eine Senken der Krankheitslast lasse sich nicht allein auf der Verhaltensebene erreichen. „Prävention ist nicht nur Privatsache, sondern muss politisch umfassend betrachtet werden.“
Noch machten es die hiesigen Bedingungen jedoch attraktiv, beispielsweise mit dem Rauchen anzufangen – während etwa die Niederlande die erste rauchfreie Generation anstrebten. Die größten Potenziale lägen außerhalb von Sozialgesetzbuch V (SGB), sagte Reimann. Der Schwerpunkt bei der Novellierung des Präventionsgesetzes müsse außerhalb liegen, betonte sie.
Von den 500.000 Krebsneuerkrankungen pro Jahr in Deutschland seien 40 Prozent komplett verhinderbar durch Vermeidung von Risikofaktoren, betonte Michael Baumann, der Vorstandsvorsitzende des DKFZ. Ein großer Teil davon gehe auf das Konto von Tabak, dieser müsse daher bei Präventionsbemühungen im Vordergrund stehen. Viele Risikofaktoren seien bekannt, aber die Umsetzung falle schwer. Deshalb würden klare Verbesserungen des Umfelds gebraucht, damit den Menschen ein gesundheitsbewusstes Leben erleichtert werde.
Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), betonte, dass es sich bei Prävention aus seiner Sicht um „das Thema“ handle und man hierzulande eine Public-Health-Strategie benötige. In den USA sei die Lebenserwartung bereits rückläufig – eine Stagnation oder ein Rückgang drohten auch hier, wenn sich nichts verändere. Reinhardt plädierte zudem für ein Schulfach Gesundheit und die Förderung der Fortbewegung mit eigener Körperkraft in Städten.
Der tatsächliche Gesundheitszustand der jeweiligen Bevölkerungen spielte für den Index keine Rolle. Dass auch besser platzierte Länder als Deutschland zum Beispiel hohe Adipositasraten aufweisen, sei kein Widerspruch: Es könne Jahre oder Jahrzehnte dauern, bis sich Effekte solcher Maßnahmen zeigen, sagte Huizinga von der AOK. Die Diskrepanz zeige vielmehr, dass andere Länder aufgrund ihrer Bedarfe handelten, während die deutsche Zurückhaltung erklärungsbedürftig sei.
Aktualisierung 2027 geplant
Der Index soll künftig alle zwei Jahre aktualisiert und gegebenenfalls ergänzt werden. Ziel ist es, Verbesserungspotenziale aufzuzeigen. „Alle für Prävention und Gesundheitsförderung verantwortlichen Akteure – Bund, Länder, Kommunen, Sozialversicherungsträger – sollen auf Grundlage des Index gezielt Bedarfe identifizieren, ungenutzte Potenziale sowie ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten erkennen“, heißt es im Bericht.
Die Autoren selbst halten einschränkend fest, dass sie perspektivisch alle 30 Staaten des Europäischen Wirtschaftsraumes einbeziehen wollen, die Konzentration auf zunächst 18 Staaten in Nord- und Zentraleuropa sei „vorrangig eine Ressourcenentscheidung“ gewesen. Nicht betrachtet wurden die Themen übertragbare Krankheiten und Struktur der öffentlichen Gesundheitsdienste.
Der Grünen-Politiker Johannes Wagner kommentierte die Ergebnisse als „inakzeptabel für eines der reichsten Länder Europas“. Er mahnte auch in Anbetracht der sehr hohen Ausgaben für das Gesundheitssystem, dass Deutschland jetzt einen Kurswechsel brauche. „Wir müssen Tabak, Alkohol und ungesunde Lebensmittel endlich wirksam regulieren und Bewegung gezielt fördern.“ Andere Länder wie Großbritannien zeigten, dass es anders gehe.
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