Ausland

Hunderttausende streiken in Großbritannien

  • Mittwoch, 1. Februar 2023
/picture alliance, empics, Jordan Pettitt
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London – Mit dem größten Streik seit etlichen Jahren hat der „Winter des Unmuts“ in Großbritannien seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Schätzungen zufolge legten heute eine halbe Million Beschäftigte in mehre­ren Branchen die Arbeit nieder.

Sie demonstrierten vor allem für deutlich stärkere Lohnerhöhungen und bes­se­re Arbeitsbedingungen – aber auch für das Streikrecht an sich. Sieben Gewerkschaften hatten den nationalen Protesttag koordiniert. Dow­ning Street warnte vor „erheblichen Störungen“.

2011 hatten schätzungsweise zwei Millionen Beschäftigte des Öffentlichen Diensts die Arbeit niedergelegt. Dass in mehreren Branchen koordiniert gestreikt wird, ist aber seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen. Nun streikten Lehrer und Lokführer, Hochschuldozenten und Regierungsmitarbeiter, Busfahrer und Sicher­heits­kräfte gleichzeitig. Längst ist in der britischen Öffentlichkeit von einem „Winter des Unmuts“ die Rede.

Die Unzufriedenheit ist in allen Branchen enorm. Für die kommenden Tage sind weitere Ausstände angekün­digt, am Montag und Dienstag etwa erneut vom Pflegepersonal des Gesundheitsdiensts NHS.

Für zusätzliche Kopfschmerzen der konservativen Regierung von Premierminister Rishi Sunak dürfte sorgen, dass bald auch Feuerwehrleute streiken wollen. „Diese Probleme werden nicht auf magische Weise verschwin­den“, sagte der Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds TUC, Paul Nowak.

Die Streikenden eint die Forderung nach einer inflationsgerechten Anhebung ihrer Löhne. Um gut zehn Pro­zent sind die Verbraucherpreise zuletzt gestiegen, doch das Lohnangebot der Regierung liegt deutlich darun­ter. Lehrern etwa sollen fünf Prozent mehr erhalten. Viel zu wenig, schimpfte die zuständige Gewerkschaft NEU.

Seit 2010 sei der Reallohn um 23 Prozent gesunken, viele Lehrkräfte würden wegen schlechter Bezahlung aus dem Job ausscheiden. „Die Regierung hat unser Bildungssystem heruntergewirtschaftet, unsere Schulen un­ter­finanziert und die Menschen, die dort arbeiten, unterbezahlt“, sagte NEU-Co-Chef Kevin Courtney. Schät­zungs­weise 120.000 Lehrer legten nun in England und Wales für einen Tag die Arbeit nieder. Etwa 23.000 Schulen blieben geschlossen.

Den Lehrkräften schlossen sich Zehntausende Beschäftigte von 150 Hochschulen an, außerdem Lokführer von 14 privaten Bahnunternehmen. Dazu kamen etwa 100.000 Mitarbeiter des Öffentlichen Diensts aus 124 ver­schiedenen Regierungsbehörden, aber auch Fahrschulprüfer.

Doch die Regierung lehnt Nachverhandlungen ab. Premier Sunak betonte zwar, seine Tür sei immer offen für Verhandlungen. Das scheint aber nicht für Gehaltsgespräche zu gelten. Der 42-Jährige warnte wiederholt, eine inflationsgerechte Anhebung würde den „Teufelskreis“ immer weiter steigender Verbraucherpreise nur antrei­ben.

Den Unmut treibt ein umstrittenes Regierungsvorhaben an. Sunak und Wirtschaftsminister Grant Shapps ha­ben die ständigen Arbeitskämpfe seit dem vorigen Sommer satt und wollen per Gesetz das Streikrecht ein­schränken. Für Polizisten, Feuerwehrleute, NHS-Kräfte oder Bahnpersonal sollen strikte Beschränkungen gel­ten. Sunak argumentiert, damit solle die Grundversorgung gewährleistet werden.

„Die Menschen können nicht frei wählen, wann sie einen Rettungswagen oder die Feuerwehr benötigen“, sag­te Shapps. Sein Entwurf biete eine faire Balance zwischen Streikrecht und den Nöten der Bevölkerung. Vor­ges­tern hatte das von den Tories dominierte Unterhaus das Gesetz in dritter Lesung angenommen. Doch im Oberhaus wird Widerstand erwartet.

Gewerkschaften und Opposition kritisieren die Pläne scharf. Das Vorhaben sei „undemokratisch, nicht durch­führ­bar und mit ziemlicher Sicherheit illegal“, schimpfte TUC-Generalsekretär Nowak. Streikende Arbeit­neh­mer müssten fürchten, ihre Jobs zu verlieren.

Labour-Vize Angela Rayner nennt das Gesetz den „Feuert-die-Pflegekräfte-Entwurf“ – und trifft damit den Nerv vieler. In Umfragen unterstützt eine Mehrheit die Strei­ken­den. Schuld am Chaos ist für viele die Regie­rung.

Konnten die Konservativen in der Vergangenheit wiederholt die Labour-Partei, die eng mit den Gewerk­schaf­ten verwoben ist, für Streikfolgen verantwortlich machen, zieht dieser Ansatz nach Einschätzung von Beo­b­ach­tern nicht mehr. Zu viele Menschen sind selbst von steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen betrof­fen.

„Wegen der Lebenskostenkrise kann man diese Streiks nicht mehr als ideologiegetrieben darstellen“, sagte James Frayne vom Beratungsunternehmen Public First dem Onlineportal Politico.

Vielmehr drückt die empfundene Sturheit der Regierung auf ihre Umfragewerte. Seit Monaten liegt Labour klar in Führung, eine Kehrtwende ist bisher nicht absehbar. Stand jetzt müssten die Tories bei der für 2024 geplanten Parlamentswahl ein Debakel befürchten.

Dennoch: Nachgeben werde Sunak nicht, meinen Parteikollegen. Von ihnen bekommt der Premierminister vielmehr Rückendeckung. Die Inflation werde bald weiter sinken, damit würden Verbraucher entlastet, zitierte Politico einen Tory-Abgeordneten. „Deshalb müssen wir so hart wie möglich bleiben.“

dpa

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