Medizin

Impfschäden: Urteil des Europäischen Gerichtshofs schafft keine neue Evidenz

  • Dienstag, 27. Juni 2017
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Nationale Gesetze dürfen Patienten in Schadenersatzprozessen gegen Pharmaunternehmen die Beweisführung erleichtern. /Gina Sanders, stock.adobe.com

Luxemburg – Letzten Mittwoch entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass ein nationales Gericht einem Mann Schadenersatz zusprechen könne, der nach Hepatitis-B-Impfungen an Multipler Sklerose (MS) erkrankt und gestorben war. Einen kausalen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten der chronisch entzündlichen Nervenerkrankung konnte jedoch nicht bewiesen werden. Nach Meinung des Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission (STIKO), Thomas Mertens ein „äußerst problematisches“ Urteil, das zwar „menschlich nachvollziehbar“ sei aber „aus Sicht der Wissenschaft falsch“.

In dem Urteil des EuGH heißt es: Auch, wenn die Kausalität zwischen einem verabreichten Impfstoff und einem medizinischen Schaden „in der medizinischen Forschung weder nachgewiesen noch widerlegt ist“, so könnten „bestimmte vom Kläger geltend gemachte Tatsachen ernsthafte, klare und übereinstimmende Indizien darstellen, die den Schluss auf das Vorliegen eines Fehlers des Impfstoffs sowie auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und der Krankheit zulassen.“ Das Deutsche Ärzteblatt hat letzte Woche über das Urteil berichtet.

Das Urteil versuche offensichtlich, die Beweislast für Kläger zu reduzieren, erklärt der Virologe vom Universitätsklinikum Ulm. „Es wird dringend erforderlich sein, kontinuierlich darauf hinzuweisen, dass dieses Urteil keine neue Evidenz schafft, sondern dass ausschließlich die Gewichtung von Indizien ohne Beweiskraft verändert wurde“, erklärt Mertens seine Einschätzung. Ein solches Vorgehen verstoße eklatant gegen gute wissenschaftliche Praxis und schade im speziellen Fall der Akzeptanz einer Impfung, die bei weltweiter Anwendung sogar das Potenzial hätte, die Hepatitis B auszurotten.

Auch Cornelia Betsch, Wissenschaftliche Leiterin am Center for Empirical Research in Economics and Behavioral Sciences an der Universität Erfurt sieht die Gefahr, dass das Urteil von der Öffentlichkeit fehlgedeutet werden könnte: „Wird die Maßgabe aufgegeben, dass eine kausale Verbindung zwischen Impfung und Schadensfall nachgewiesen sein muss, damit es zur Anerkennung kommt, wird willkürlichen Behauptungen Tür und Tor geöffnet. Impfgegner könnten diesen Fall als Präzedenzfall nutzen und sich darauf berufen, dass es keiner Evidenz bedarf, um einen Impfschadensfall zu proklamieren.“ Dies könne die Öffentlichkeit verunsichern und zu mehr Impfmüdigkeit führen.

Dabei war die Einschätzung und Beweislage zur Frage eines Zusammenhanges zwischen Hepatitis-B-Impfung und MS nicht Gegenstand des Urteils. „Vielmehr geht das Gericht davon aus, dass der kausale Zusammenhang wissenschaftlich nicht beweisbar ist, ebenso wenig wie das Fehlen des Zusammenhanges“, erklärt Mertens. In der gleichgewichteten Bewertung dieser beiden Zustände – Beweisbarkeit versus Nicht-Beweisbarkeit eines Zusammenhanges – liegt nach Meinung des Ulmer Virologen ein erhebliches Problem des Urteils, das er mit folgendem Beispiel verdeutlicht: Jemand erleidet ein Jahr vor dem Auftreten einer MS einen Verkehrsunfall. Nach allem Wissen und ‚gesundem Verstand’ haben beide Ereignisse keinen kausalen Zusammenhang. Der formale wissenschaftliche Beweis, dass in dem Einzelfall kein Zusammenhang besteht, wird dennoch nicht möglich sein.

Impfschadensverdachtsfällen schwer zu beurteilen

Wer Impfschadensverdachtsfälle beurteilen möchte, muss klar unterscheiden zwischen Kausalität und zeitlicher Koinzidenz. „Diese Unterscheidung gerät im Verlauf von Laien-Diskussionen erfahrungsgemäß häufig in den Hintergrund, auch wenn tatsächliche Evidenz fehlt“, sagt Mertens. Der wissenschaftliche Beweis der Kausalität sei bei Impfungen insbesondere dann schwierig, manchmal sogar unmöglich, wenn es sich um sehr seltene vermutete Nebenwirkungen handelt – zum Beispiel mit besonderer vermuteter genetischer Prädisposition eines Impflings. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat zur Feststellung des Nachweises eines kausalen Zusammenhangs zwischen einer Impfung und einer Nebenwirkung ein Nutzerhandbuch und ein Informationsblatt veröffentlicht (siehe Kasten). Es wird unterschieden zwischen einer Kausalität auf der Ebene der Bevölkerung und der Ebene des Individuums.

Im Handbuch listet die WHO auch eine Reihe von Möglichkeiten auf, wie man sich dem Beweis einer Kausalität nähern kann. Genannt werden unter anderem tierexperimentelle Modelle, Registrierung von Spontanmeldungen, etwa beim Paul-Ehrlich-Institut und einer Ärztekammer in Deutschland, Kasuistiken, Anwendungsbeobachtungen oder populationsbasierte retrospektive Studien. Mithilfe eines Kaninchen-Modells für die allergische Neuritis, sei es beispielsweise gelungen, den Mechanismus der demyelinisierenden Nebenwirkung der ersten Tollwut-Impfstoffe aufzuklären, die Nervenmaterial von Tieren enthielten, berichtet Mertens. „Viele Länder haben Spontanmeldeverfahren etabliert. Diese geben Betroffenen und Ärzten die Möglichkeit, den Verdacht auf eine Nebenwirkung unkompliziert zu melden“, sagt der Vorsitzende der STIKO und ruft dazu auf, jeden Verdacht zu melden – auch wenn die Meldungen nicht populationsbasiert seien und somit keine primäre Aussage zu Nebenwirkungsraten ermöglichen. Vielfach seien die Daten in den Meldungen unvollständig, die Diagnosen der Verdachtsmeldungen nicht geprüft und nicht selten sogar falsch, räumt Mertens ein.

Was bedeutet das Urteil für Deutschland?

Auf die Haftung für Arzneimittel in Deutschland wirkt sich das Urteil nicht unmittelbar aus. Denn hierzulande wird nicht die Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG (Art. 4) angewendet, sondern das Arzneimittelgesetz (§§84f.) beziehungsweise das Infektionsschutzgesetz (§§60f.) Demzufolge erhält jemand, der aufgrund einer „öffentlich empfohlenen“ Impfung einen Impfschaden erlitten hat, „auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes“. „Zur Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Folge einer Schädigung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs.“ Als „wahrscheinlich“ gilt hier, wenn mehr für die Kausalität spricht als gegen sie. 

gie

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