IQWiG fordert höhere Anforderungen an Zulassung von Orphan Drugs

Berlin – Das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen (IQWiG) plädiert für eine Reform der Nutzenbewertung bei Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen (Orphan Drugs). Die forschenden Arzneimittelhersteller widersprechen dem und warnen vor Versorgungslücken, sollten die Anforderungen an Studiendaten erhöht werden.
Das IWQiG hatte die Nutzenbewertungen von Orphan Drugs zwischen 2011 und 2023 analysiert und war zu dem Schluss gekommen, dass sich deren Entwicklung nicht ausreichend am medizinischen Bedarf orientiert. So seien wirtschaftlich attraktive onkologische Indikationen überrepräsentiert, während ungedeckte medizinische Bedarfe (unmet medical needs) nicht genügend begegnet werde.
So hätten in 58 Prozent der untersuchten Fragestellungen in Zulassungsstudien zum Zeitpunkt der Bewertung bereits aktive Therapien zur Verfügung gestanden – bei onkologischen Orphan Drugs sogar bei 88 Prozent. In allen anderen Indikationen lag dieser Wert im Schnitt bei 24 Prozent.
Dies deute auf einen Mangel an Neuzulassungen von Orphan Drugs in Indikationen mit ungedecktem medizinischem Bedarf hin, heißt es in einer jüngst im International Journal of Technology Assessment in Health Care publizierten Studie des IQWiG (2024; DOI: 10.1017/S026646232400062X).
Insgesamt würden Orphan Drugs bei der Nutzenbewertung nicht besser oder schlechter abschneiden als andere Arzneimittelkategorien. Allerdings habe sich gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit eines Zusatznutzens in regulären Nutzenbewertungen von Orphan Drugs mit nicht onkologischen Indikationen höher gewesen sei als bei neuen Wirkstoffen gegen seltene Krebserkrankungen.
Ein Problem sei dabei das verkürzte Verfahren, bei dem Orphan Drugs nach EU-Zulassung ein automatischer Zusatznutzen zugesprochen werde. In nahezu 80 Prozent der Fälle hätte sich dieser Zusatznutzen aber nicht wissenschaftlich belegen lassen.
Im Gegensatz zur regulären Nutzenbewertung gebe es keine definierten Standards für die Belege, die für die begrenzt bewerteten Orphan Drugs vorgelegt werden. Es sei daher unklar, wie hoch der Anteil dieser begrenzten Bewertungen gewesen sei, für die keine Daten zum Vergleich der Orphan Drugs mit der Standardbehandlung vorgelegen hätten.
Das sei auch mit Blick auf die Kosten relevant, die durch Orphan Drugs entstünden: Diese hätten im Jahr 2020 zwar nur 0,06 Prozent aller Arzneimittelverordnungen ausgemacht, damit aber 11,6 Prozent der Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf sich vereint.
„Dies erfordert eine Reform der Evidenzanforderungen für die Zulassung von Orphan Drugs“, schlussfolgern die Studienautorin und -autoren. „Zur Untermauerung klinischer und gesundheitspolitischer Entscheidungen sollten Vergleichsdaten mit dem besten verfügbaren Versorgungsstandard generiert und für die behördliche Zulassung vorgelegt oder kurz nach der behördlichen Zulassung verlangt werden, zum Beispiel als Bedingung für den weiteren Marktzugang.“
Die Pharmaindustrie wiederum warnt vor genau diesen Forderungen. Zeitgleich mit dem IQWiG hatte der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) eine von ihm in Auftrag gegebene Untersuchung der Unternehmensberatung Kucher & Partner veröffentlicht, in welcher die möglichen Auswirkungen auf die Versorgung im Falle einer Nutzenbewertung von Orphan Drugs nach denselben Standards wie bei anderen Arzneimitteln betrachtet wurden.
Demnach könnten bei einer Abschaffung der Orphan-Drug-Regelung 79 Prozent der Medikamente einen Zusatznutzen aufgrund formaler Gründe nicht mehr erreichen, heißt es darin. Die Folge wäre laut der Unternehmensberatung ein „dramatischer Preisverfall“.
Dieser würde potenziell dazu führen, dass jedes zweite Medikament gegen seltene Erkrankungen aus der Versorgung verschwinden könnte. Denn 57 Prozent von ihnen hätten aufgrund des sinkenden Preisniveaus ein sehr hohes Marktrücknahmerisiko gezeigt, bei den Gen- und Zelltherapien unter ihnen seien es gar 78 Prozent. Bei weniger als jedem vierten Medikament gegen seltene Erkrankungen wären nur geringe Risiken für die Marktverfügbarkeit vorhanden.
„In einem Bereich, in dem es deutlich mehr Medikamente gegen Seltene Erkrankungen braucht als wir heute haben, würde eine Angleichung bei der Nutzenbewertung das Gegenteil bewirken und zu einer starken Verminderung der Verfügbarkeit von Orphan Drugs führen“, erklärt Ulrike Götting, Geschäftsführerin Markt und Erstattung beim vfa.
Zudem habe sich die Politik bewusst für die eingeschränkte Nutzenbewertung von Orphan Drugs entschieden. Schließlich könnten diese die üblichen Kriterien oftmals gar nicht erfüllen, da sie aufgrund sehr kleiner Studienpopulationen andere Evidenzregeln bräuchten.
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