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Klinische Studien: Deutschland droht Anschluss zu verlieren

  • Dienstag, 4. Juli 2023
/Gorodenkoff, stock.adobe.com
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Berlin – Deutschland verliert bei der Durchführung klinischer Studien zusehend den Anschluss an andere Industrienationen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Unternehmensberatung Kearney im Auftrag des Verbands der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa). Insbesondere in der Onkologie droht demnach eine „spürbare Innovationslücke“, die sich auch auf die Versorgung auswirken könnte.

Die Pharmaindustrie in Deutschland hat zuletzt eine Rekordsumme eingefahren: Mit 8,7 Milliarden Euro waren die Investitionen in hiesige Standorte 2021 so hoch wie noch nie, erklärte Kearney-Geschäftsführer Marc P. Philipp gestern in Berlin. Zahlen von 2022 nannte er nicht.

„Von daher ist es oberflächlich eigentlich eine gute Situation“, sagte er. „Nichtsdestoweniger vergrößert sich der Abstand zu den USA dramatisch. Die USA laufen uns davon, was die Investitionen angeht.“ Betrug die Summe der Investitionen in den USA 2012 noch das Sechsfache – 29,1 zu 4,9 Milliarden Euro – wuchs die Lücke bis 2021 auf das Achtfache. 67,5 Milliarden Euro standen jene 8,7 Milliarden gegenüber.

Das ist aber nur ein Symptom der Krankheit, ein anderes ist die Zahl der hierzulande durchgeführten klini­schen Studien. Die habe seit 2012 um über fünf Prozent abgenommen, rechne man die Studien zu SARS-CoV-2 heraus, sogar um mehr als zehn Prozent.

Entsprechend sei Deutschland im internationalen Vergleich zurückgefallen. War es 2012 noch weltweit führend, steht Deutschland heute mit 2.721 klinischen Studien im Jahr 2021 hinter den USA mit 12.503, China mit 7.768, Frankreich mit 3.045, Spanien mit 2.950, Großbritannien mit 2.944 und Kanada mit 2.780.

Bei der Betrachtung der Zahl laufender klinischer Studien pro einer Million Einwohner sieht es sogar noch düsterer aus: Hier liegt Deutschland mit 33 Studien nur noch auf Platz 11. Führende Länder wie Dänemark, Belgien oder Israel sind mit 192 Studien, 147 und 118 weit entfernt. Ähnlich sieht es bei der Zahl der Stu­dienteilnehmer pro einer Million Einwohner aus.

Trübe Aussichten

Entsprechend ist die Stimmung in der Branche: Die Unternehmensberatung hatte 50 Führungskräfte aus vfa-Mitgliedsunternehmen nach ihrer Einschätzung befragt. Im Schnitt gaben zwar nur 40 Prozent von ihnen an, dass der Pharmastandort Deutschland in den vergangenen fünf Jahren an Bedeutung verloren hat. 69 Prozent erwarten das aber für die kommenden fünf Jahre.

„Wir brauchen eine Trendumkehr, sonst haben wir irgendwann ein Innovationsproblem, aus dem auch ein Versorgungsproblem werden kann“, betonte Philipp. Wenn jetzt nicht entschieden gehandelt werde, drohe bis 2030 der Verlust des frühen Zugangs zu innovativen Therapien für bis zu 40 Prozent der Patientinnen und Patienten.

Denn um das Niveau von deren Zahl zu halten, müsste die Studienzahl noch spürbar zulegen. Denn aufgrund der Trends hin zu Präzisionsmedizin, fokussierten Krankheitsbildern und neuen Studienformaten sinke die durchschnittliche Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer pro Studie kontinuierlich.

177.000 Patienten hätten 2021 von der Teilnahme an klinischen Studien profitiert. Um dieses Niveau zu halten, müssten laut Kearney im Jahr 2030 mindestens 250 Studien mehr durchgeführt werden als 2021 – also eine Steigerung von mehr als neun Prozent.

Was die Unternehmensberatung allerdings nicht erwähnt: Ein früher Zugang zu innovativen Therapien ist nicht zwangsläufig ein Zugang zu besseren Therapien. Es liegt in der Natur der Sache, dass nicht alle Wirk­stoffkandidaten, die in einer klinischen Studie erprobt werden, wirksam und sicher genug sind, um auch als Arzneimittel zugelassen zu werden.

Und selbst bei denen, die die Zulassung erreichen, ist ein Zusatznutzen gegenüber den bisherigen Therapien nicht automatisch gegeben: Von den 105 neu zugelassenen Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen, die das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) vergangenes Jahr im Rahmen des AMNOG-Verfahrens bewertet hat, erhielten 70 die Bewertung „Zusatznutzen nicht belegt“. Nur 24 erhielten die Bewertung „beträchtlicher“ oder „erheblicher Zusatznutzen“, wie das IQWiG auf Anfrage erklärt.

Dennoch sind Zahlen der Studien und ihrer Teilnehmer ein Indikator für die Innovations- und Leistungs­fähig­keit der deutschen Pharmaindustrie. Und die ist laut Kearney auf dem absteigenden Ast: „Für den Fall, dass in Deutschland weiterhin nicht konzertiert und systematisch gehandelt wird, um die Trendumkehr einzuleiten, ist davon auszugehen, dass Volumen und Bedeutung von Forschung und Entwicklung bis 2030 weiter an Boden verlieren“, schreibt die Unternehmensberatung.

So würde in diesem Fall ein weiterer Rückgang der Anzahl der hierzulande durchgeführten Studien um 35 Prozent im Vergleich zu 2021 drohen. 45.000 bis 70.000 Patienten würden davon direkt betroffen sein.

Konzertierte Aktion

Die Zeit dränge also, die Situation anzugehen. Die wichtigsten Probleme sind längst bekannt: Die Überbüro­kratisierung, die die Zeit bis zur Durchführung von Studien erheblich verlängert und so einen Wettbewerbs­nachteil kreiert, der schwierige Zugang zu Gesundheitsdaten für Forschung und Entwicklung sowie eine schwache Verknüpfung von Forschungseinrichtungen und Start-ups.

Zwar sei die Forschungslandschaft hierzulande stark, allerdings fehle es an Strukturen und Risikokapitalge­bern, um genügend Ausgründungen zu ermöglichen, erklärte Matthias Meergans, Geschäftsführer Forschung und Entwicklung beim vfa. Auch würden hierzulande nicht genügend klinische Ressourcen bereitgestellt. „Da sind andere Länder besser, was die Förderkultur angeht“, kritisierte er.

Der vfa und Kearney fordern deshalb eine konzertierte Aktion. „Die Herausforderung ist nicht, weiter einzelne Maßnahmen durchzuführen, sondern sie in einen umfassenden Plan zu überführen“, sagte Philipp. Dazu brauche es bestenfalls einen Roundtable „Pharmainnovationsstandort Deutschland“ unter Koordination des Bundeskanzleramts oder des Bundesgesundheitsministeriums (BMG).

An ihm sollten demnach nicht nur Ministerien – neben dem BMG auch das Forschungs- und das Umwelt­minis­terium – und Industrieverbände Platz nehmen, sondern auch Behörden wie das Bundesinstitut für Arz­neimittel und Medizinprodukte (BfArM) oder das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) sowie die Ethikkommissionen und die Bundesärztekammer (BÄK).

Länder wie Großbritannien, Frankreich und Spanien hätten in der Vergangenheit mit ähnlichen holistischen Ansätzen gute Erfahrungen gemacht.

„Die Stärkung des Innovationsstandorts kann gelingen, wenn Forschung wieder in konkurrenzfähigem Tempo ablaufen kann, Unternehmen und Universitäten besseren Zugang zu pseudonymisierten medizinischen Ver­sorgungsdaten erhalten und das Ökosystem für Translation von Grundlagenforschung in Behandlungs­möglich­keiten für Patienten gestärkt wird“, erklärte Meergans dazu.

lau

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