Leitlinienerstellung immer noch „unter dem Radar“

Berlin – Das große Potenzial von Leitlinien für die Patientenversorgung könnte noch besser ausgeschöpft werden. Diesbezüglich waren sich Fachleute gestern beim „Brennpunkt Onkologie“ der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) einig.
Sie wiesen darauf hin, dass S3-Leitlinien für Ärztinnen und Ärzte sowie für Krebsbetroffene und Angehörige zwar eine wichtige Informationsquelle sind. Auch spielten sie bei der Zertifizierung von Krebszentren und bei der Wissen generierenden onkologischen Versorgung eine zentrale Rolle. Trotzdem gebe es noch Spielraum bei der Generierung von Forschungsfragen und auch bei der Digitalisierung von Leitlinien, die eine verbesserte Nutzung ermöglichen könnte.
DKG-Generalsekretär Johannes Bruns hofft zum Erhalt zukunftsfähiger Strukturen auf mehr Unterstützung der bislang ehrenamtlichen Leitlinienarbeit. Diese dürfe nicht „unter dem Radar“ in der gesundheitspolitischen Diskussion bleiben. „Die ehrenamtliche Tätigkeit könnte durch Freistellung der Fachexpertinnen und -experten oder anderweitige Unterstützung ,geadelt‘ werden“, sagte er.
Leitlinienarbeit attraktiv gestalten
Gerade angesichts schwindender Ressourcen an medizinischem Personal und an Kapazitäten sei es wichtig, Leitlinienarbeit attraktiv zu gestalten. „Mit Blick auf eine nachhaltige Verankerung der Leitlinien im Gesundheitssystem müssen wir diskutieren, ob eine reine Spendenfinanzierung auch künftig ausreichend sein wird.“
Tatsächlich wird das 2008 gestartete onkologische Leitlinienprogramm ausschließlich von der Deutschen Krebshilfe finanziert. Getragen von der DKG und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hat es sich in den vergangenen 16 Jahren in der deutschen Onkologie etabliert und ist Grundlage vieler onkologischer Strategien.
Dies gelte insbesondere für die Einrichtung von Organkrebszentren und onkologischen Zentren, deren Zertifizierungsgrundlage die jeweiligen S3-Leitlinien aus dem onkologischen Leitlinienprogramm seien, betonte Thomas Seufferlein vom Vorstand der DKG.
Besonders hob er die Unabhängigkeit des Programms hervor. „Dass die Deutsche Krebshilfe das onkologische Leitlinienprogramm finanziert, stellt vor allem die methodische Qualität und die inhaltliche Unabhängigkeit der Leitlinien sicher“, sagte er. Diese müsse erhalten bleiben, auch wenn weitere Unterstützungsmöglichkeiten erschlossen werden könnten.
Gerd Nettekoven, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Krebshilfe, sagte eine weitere Finanzierung des Leitlinienprogramms zu. „Es ist wichtig, dass die bewährte Struktur erhalten bleibt“, sagte er. Es gebe bei der Krebshilfe kein Zeitfenster, nach dem sie aus der Finanzierung herausgehen wolle. Trotzdem seien sicher andere Unterstützungsmöglichkeiten denkbar.
Vor allem müsse es für Fachleute attraktiv sein, sich mit den Leitlinien zu beschäftigen und diese auch aktuell zu halten. „Die Fachexpertise kommt bei den Leitlinien von den Expertinnen und Experten aus den Fachgesellschaften. Dieser „Bottom-up“-Ansatz zeichnet das gesamte Leitlinienprogramm aus, stellt aber hohe Anforderungen an die ehrenamtlich Arbeitenden“, verdeutlichte er.
Bei großen Leitlinien versammelten sich mehr als 100 Expertinnen und Experten aus bis zu 50 Fachgesellschaften, die Schlüsselfragen definierten, die Literatur nach Recherche bewerteten sowie Empfehlungen, Hintergrundtexte, Forschungsfrage und die Konsensfindung formulierten. „Dazu sind vielfache Abstimmungsrunden erforderlich. All das erfordert Engagement und Zeit.“
Besonders sei dies erforderlich, wenn es sich um eine Living Guideline handele, die eine anlassbezogene oder kontinuierliche Aktualisierung vorsehen würden, so Seufferlein. „Es ist problematisch, wenn Leitlinien nicht aktuell sind“, unterstrich Axel Heyll, DKG und ehemaliger Leiter des Kompetenzzentrums Onkologie der Medizinischen Dienste. Zudem sollte eine Übereinstimmung der Leitlinien mit dem Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung angestrebt werden.
Notwendig erscheint es ferner Seufferlein, den Kreis der mitarbeitenden Fachexperten zu erweitern. „Das ist eine der wesentlichsten Aufgaben für die Zukunftssicherung des Leitlinienprogramms.“ Prinzipiell sei bei jüngeren Kollegen Interesse an evidenzbasierter Medizin und Leitlinienarbeit vorhanden. Allerdings müsse das „Rüstzeug“ für die Leitlinienarbeit zur Verfügung gestellt werden.
„Den Fachgesellschaften, die die Mitarbeitenden für die Leitlinienmitarbeit nominieren, kommt eine besondere Bedeutung bei der Nachwuchsförderung die Leitlinienerstellung zu“, so Seufferlein. Diese könne über Leitlinienakademien umgesetzt werden, die von einigen Fachgesellschaften bereits angeboten würden.
Auch die Digitalisierung und die Nutzung neuer Formate mache die Leitliniennutzung und -arbeit für jüngere Ärztinnen und Ärzte attraktiver, so Seufferlein. Dazu gehört das Content-Management-System des Leitlinienprogramms Onkologie der DKG, das die Darstellung von Leitlinien in einer App ermögliche.
Christiane Simmler, Vorsitzende Richterin am Kammergericht Berlin, verdeutlichte die Bedeutung von Leitlinien in der Rechtsprechung. „Leitlinien mit hoher Evidenz – wie S3-Leitlinien – sind gewichtige Stimmen bei der Ermittlung des im konkreten Behandlungsfall anwendbaren Standards“, sagte sie. Zur Ermittlung des medizinischen Standards dürften Leitlinien jedoch nicht unbesehen übernommen werden, warnte sie.
„Es gibt eine zu große Leitliniengläubigkeit.“ Immer seien Leitlinien auf ihre Anwendbarkeit für den Zeitpunkt der Behandlung zu prüfen. Ihr Fazit: „Leitlinien können den in einem konkreten Fall maßgeblichen Sorgfaltsmaßstab nicht abschließend beschreiben, sondern sind als Empfehlung zu verstehen, von der jedoch aus besonderen Gründen abgewichen werden kann – oder muss.“
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