Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen könnte sich durch Lockdown verschärfen

Berlin – Fast 700.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland haben einen riskanten oder sogar pathologischen Konsum von Onlinespielen und sozialen Medien. Im Vergleich zum Herbst 2019 nehmen die Nutzungszeiten zu.
Dies sind erste Ergebnisse einer Studie zum Nutzungsverhalten 10- bis 17-Jähriger, die die DAK-Gesundheit und Suchtexperten vom Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (UKE) heute in Berlin der Presse vorgestellt haben.
„Es gibt erste Warnsignale, dass sich die Computerspielsucht durch die Pandemie ausweiten könnte“, erklärte Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK Gesundheit.
Das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am UKE unter der Leitung von Rainer Thomasius untersuchte in dieser Längsschnittstudie erstmalig die pathologische Nutzung von Onlinespielen und sozialen Medien nach den neuen ICD-11 Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Im September 2019 zeigten danach zehn Prozent der 10- bis 17-Jährigen ein riskantes Spielverhalten. Pathologisches Gaming wurde bei 2,7 Prozent festgestellt: Die Zahl der betroffenen Jungen lag mit 3,7 Prozent mehr als doppelt so hoch als bei Mädchen (1,6 Prozent).
Unter dem Coronalockdown nahmen die Nutzungszeiten deutlich zu. Im Vergleich zum September 2019 stiegen im Mai 2020 die Gamingzeiten in der Woche um 75 Prozent an. Werktags erhöhten sie sich von 79 auf 139 Minuten an. Am Wochenende gab es einen Anstieg um fast 30 Prozent auf 193 Minuten am Tag.
„Die Nutzungszeiten der Kinder und Jugendlichen haben die größte Vorhersagekraft für ein problematisches und pathologisches Verhalten“, sagte Thomasius.
Ähnlich problematisch wie Onlinespiele sind Social-Media-Aktivitäten. Im September zeigten 8,2 Prozent der befragten Kinder und Jugendliche eine riskante Nutzung. Das entspricht hochgerechnet fast 440.000 der 10- bis 17- Jährigen. Eine pathologische Nutzung wird bei rund 170.000 Jungen und Mädchen (3,2 Prozent) festgestellt. Unter dem Coronalockdown stiegen die Social-Media-Zeiten werktags um 66 Prozent an – von 116 auf 193 Minuten pro Tag.
Gaming und soziale Medien werden der Befragten zufolge vor allem genutzt, um Langeweile zu bekämpfen oder soziale Kontakte aufrecht zu erhalten. Rund ein Drittel der Jungen und Mädchen will online aber auch der „Realität entfliehen“, „Stress abbauen“ oder „Sorgen vergessen“.
Keine zeitlichen Regeln zur Nutzung von Medien
Rund 50 Prozent der Eltern der befragten Heranwachsenden gaben an, dass es in ihrer Familie vor und unter Corona keine zeitlichen Regeln für die Mediennutzung gibt. Rund 80 Prozent haben zudem nach eigenen Angaben keine Kenntnisse der Inhalte dessen, womit sich ihre Kinder online beschäftigen.
„Das macht mir große Sorgen – ich sehe hier dringenden Handlungsbedarf für die Prävention“, sagte der ärztliche Leiter des Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters Thomasius. Der Kinder- und Jugendpsychiater nimmt jährlich rund 400 mediensüchtige Kinder und Jugendliche stationär am UKE auf – mit zunehmender Tendenz.
Ob die Mediensucht durch Schulschließungen und eingeschränkte Freizeitaktivitäten tatsächlich wächst, soll die Längsschnittstudie in einer abschließenden Befragung der teilnehmenden Familien im Frühjahr 2021 zeigen.
Mediensuchtscreening ergänzt Früherkennungsuntersuchungen
„Unsere Studie zeigt, dass wir dringend ein verlässliches Frühwarnsystem gegen Mediensucht brauchen“, sagte der DAK-Vorstandvorsitzende Storm. Die DAK-Gesundheit bietet deshalb, nach eigenen Angaben als bundesweit erste Krankenkasse, ein neues Mediensuchtscreening an.
In einem Pilotprojekt mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) können dabei 12- bis 17-Jährige ab dem 1. Oktober eine neue zusätzliche Vorsorgeuntersuchung in Anspruch nehmen, zunächst in fünf Bundesländern (Bremen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen), ergänzend zur J1 und J2.
„Die Einbettung des Screenings in die regulären Vorsorgeuntersuchungen hilft dabei, eine drohende Sucht frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern“, betonte Sigrid Peter, Vizepräsidentin des BVKJ. Dieser Schritt sei für Eltern und Ärzte gleichermaßen sehr wichtig, denn Mediensucht sei ein ständiges Thema in Kinder- und Jugendarztpraxen.
Grundlage für das Mediensuchtscreening ist die so genannte GADIS-A-Skala (Gaming Disorder Scale for Adolescents), die von den Suchtforschern des UKE entwickelt wurde und jetzt erstmals in der Praxis eingesetzt wird.
Ist das Screening auffällig soll die oder der betroffene Jugendliche durch den Kinder- und Jugendarzt beraten und eventuell auf eine Online-Anlaufstelle zur Stärkung der Medienkompetenz verwiesen werden. In schweren Fällen soll ein Kinder- und Jugendpsychiater oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut hinzugezogen werden.
Zusammen mit dem UKE Hamburg hat die DAK eine neue Online-Anlaufstelle Mediensucht ins Leben gerufen. Ab August erhalten Betroffene und deren Angehörige Informationen und Hilfen rund um die Themen Online-, Gaming- und Social-Media-Sucht. Das kostenlose Angebot ist offen für Versicherte aller Krankenkassen.
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, zeigte sich bei der Pressekonferenz besorgt aufgrund der hohen Zahlen pathologischer Mediennutzer. „Die Entwicklung darf so nicht weitergehen, deshalb wollen wir dieses Mega-Thema in Familien auf die politische Agenda heben“.
Der Umgang mit dem Internet müsse gelernt werden; Kinder und Jugendliche müssten auch über die die Gefahren eines übermäßigen Konsums aufgeklärt werden. Zusammen mit der Beauftragten der Bundesregierung für Digitalisierung, Dorothee Bär, hat sie deshalb gerade die Kampagne „Familie. Freunde. Follower“. gestartet.
„Unter Eltern gibt es mehr Unsicherheiten bezüglich digitaler Mediennutzung denn je“, Bär. Die Kampagne will Eltern dabei unterstützen, den Konsum von Medien ihrer Kinder zeitlich zu begrenzen und sie bei der Mediennutzung altersgerecht zu begleiten. „Bereits ab der Grundschule sollte das Thema der verantwortungsvollen Nutzung eine Rolle spielen“, betonte Bär.
Digitale Medien sollten aber nicht grundsätzlich verteufelt werden. „Ohne sie hätten wir den Corona-Lockdown nicht so gut bewältigen können“, sagte Ludwig. „Diese Entwicklung darf sich aber nicht verstetigen.“
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