Ärzteschaft

Notfallversorgung: Ärzteschaft stellt Software für Triage vor

  • Montag, 25. Juni 2018
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Berlin – Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) will künftig bei der Erstbewertung von Notfällen die Software „SmED“ (Strukturiertes medizinisches Ersteinschätzungsverfahren für Deutschland) einsetzen. Mithilfe eines Algorithmus´ soll auf diese Weise strukturiert und bundeseinheitlich beurteilt werden, welche Notfallpatienten akut im Krankenhaus behandelt werden müssen und in welchen Fällen die Behandlung im ambulanten Bereich oder zu Hause erfolgen kann. Damit reagiert die KBV auf die seit Jahren ansteigende Zahl der Patienten, die zur Behand­lung die Notaufnahmen von Krankenhäusern aufsuchen, obwohl sie besser in den Praxen oder Bereitschaftspraxen niedergelassener Ärzte versorgt werden könnten.

„Ob ein Patient ein Notfall ist oder nicht, darüber entscheidet in unserem offenen System, das keine verbindliche Anlaufstelle kennt, in erster Instanz der Patient selbst“, sagte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KBV, Stephan Hofmeister, heute bei der Vorstellung des neuen Systems vor Journalisten in Berlin. Um die knappe Ressource Arztzeit sinnvoll einzusetzen, habe die KBV nun ein Leitsystem entwickeln lassen, das die Menschen gewissermaßen an die Hand nehme und auf den richtigen Pfad leite.

Software wird in den nächsten drei Jahren erprobt

„SmED basiert auf einem bereits etablierten evidenzbasierten System, mit dem Patientenbeschwerden hinsichtlich ihrer Dringlichkeit und der richtigen Versor­gungsebene zur weiteren Abklärung ihres Anliegens eingeschätzt werden können“, erklärte der Geschäftsführer des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), Dominik von Stillfried. „Die Patienten erhalten eine gezielte Empfehlung, etwa: sofort ins Krankenhaus, Termin beim niedergelassenen Arzt reicht aus oder Hausmittel verschaffen Linderung.“ Neben der Einordnung der Beschwerden bietet SmED auch eine Dokumentation für die anschließende Behandlung.

Geplant ist, die Software ab dem kommenden Jahr in elf Kassenärztlichen Vereini­gungen (KVen) zu testen. Dabei soll sie sowohl zum Einsatz kommen, wenn Patienten die bundesweite Rufnummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes, 116117, anrufen als auch am Tresen einer vertragsärztlichen Notfallpraxis. In neun KVen werde es eine telefonische Vermittlungszentrale geben, so von Stillfried. Zudem werde es an 25 verschiedenen Standorten in Bereitschaftspraxen an Krankenhäusern eingesetzt.

Das Projekt wird unter dem Namen „DEMAND – Implementierung einer standardi­sierten Ersteinschätzung als Basis eines Demand Managements in der ambulanten Notfallversorgung“ durch den Innovationsfonds gefördert. Es läuft über einen Zeitraum von drei Jahren und wird wissenschaftlich evaluiert.

System fußt auf einer Schweizer Software

SmED fußt auf einer Software, die in der Schweiz entwickelt wurde und dort bereits seit Jahren zum Einsatz kommt. „Die medizinischen Inhalte des Systems referenzieren unter anderem auf das Projekt ‚Red Flags‘ des Instituts für Hausarztmedizin der Universität Bern, bei dem mehr als 250 wissenschaftliche Arbeiten berücksichtigt wurden“, erklärte Andreas Meer, Geschäftsführer der Schweizer in4medicine AG, die die Schweizer Software entwickelt hat.

Im Hinblick auf die Anwendung in Deutschland würden die Empfehlungen noch einmal überprüft und laufend angepasst. Für die Weiterentwicklung, die Qualitätssicherung und die Evaluation sowie für die Bereitstellung der Software in Deutschland wurde ein mehrjähriger Kooperationsvertrag zwischen Zi, dem aQua-Institut und in4medicine geschlossen.

Meer erklärte, wie die Software funktioniert: Im ersten Schritt werde getestet, ob eine unmittelbare Lebensbedrohung vorliegt. Wenn dies der Fall ist, wird sofort der Rettungsdienst informiert. Ist dies nicht der Fall, werden von einer speziell geschulten Fachkraft zunächst die Patientendaten erhoben, danach die sogenannte Leitbeschwerde. Es wird erfragt, seit wann diese besteht, wie stark sie ist und welche weiteren Beschwerden vorliegen. Im Anschluss stellt das System dar, welche medizinischen Handlungsoptionen vorliegen und gibt eine Empfehlung ab.

Schweiz: 50 Prozent der Anrufer wird Selbstbehandlung empfohlen

Bei der Leitbeschwerde „Ohrenschmerzen“, die seit mehr als einer Woche anhält, die einen starken Schmerz hervorruft und die von einer Entzündung im Bereich der Ohrmuschel begleitet wird, gibt das System unter anderem die Empfehlung: ‚Die medizinische Behandlung muss nicht sofort erfolgen, sollte aber nicht bis morgen oder übers Wochenende aufgeschoben werden. Eine medizinische Behandlung sollte innerhalb der nächsten 24 Stunden erfolgen.“

Meer betonte, dass die Empfehlung der Software nur eine Grundlage für die Entscheidung bilde. Die finale Entscheidung werde von den Fachkräften vorgenommen, bei der auch von der Empfehlung des Systems abgewichen werden könne. „In der Schweiz haben wir gute Erfahrungen mit dem System gemacht“, sagte Meer. Bei etwa 50 Prozent der Anrufenden sei eine Selbstbehandlung empfohlen worden. Bei weniger als einem Prozent habe ein lebensbedrohlicher Notfall vorgelegen.

Henke: Überall die gleiche Sprache sprechen

Zur Anpassung und Weiterentwicklung der Software hat das Zi einen medizinischen Beirat eingerichtet. Dort sind nicht nur niedergelassene Haus- und Fachärzte, sondern durch den Marburger Bund (MB) und die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) auch im Krankenhaus tätige Ärzte vertreten.

„Wir halten es für sehr wichtig, dieses Projekt als einen wichtigen Baustein im Rahmen eines umfassenden Ersteinschätzungsverfahrens von Anfang an auch aus unserer Sicht zu begleiten“, betonte der 1. Vorsitzende des MB, Rudolf Henke. „Unser Ziel ist es, dass im Bereich der Ersteinschätzung überall die gleiche Sprache gesprochen wird. Wir wollen, dass die gleiche Ersteinschätzung langfristig sektorenunabhängig sowohl unter der 116117 als auch unter der 112 und wohl ergänzt um eine Dringlichkeitseinstufung auch in der Notaufnahme eingesetzt werden kann.“ Die geplante neue Software könne dieses Gesamtziel unterstützen.

„Wir werden anhand von Beispielfällen die hinterlegten Algorithmen überprüfen, um sicher zu sein, dass Red Flags, die die Einweisung in eine Klinik auslösen sollten, auch tatsächlich zu den notwendigen Konsequenzen führen“, so Henke.

In Notaufnahmen zuerst Hochrisikopatienten erkennen

Auch Harald Dormann, Vorstandsmitglied der DGINA, begrüßte SmED, da hierdurch möglicherweise eine bestehende Orientierungslücke von akut hilfesuchenden Patienten geschlossen werden könne. Neben den Algorithmen der Leitstellen, die lebensbedrohliche Patientenanfragen koordinieren, und den etablierten Erstsichtungsmethoden der Notaufnahmen, die Hochrisikopatienten fokussieren, könnte SmED eine wichtige Lücke im Niedrigrisikobereich schließen.

Er betonte jedoch, dass in den Notaufnahmen der Krankenhäuser sofort nach dem Eintreffen der Notfallpatienten eine medizinische Ersteinschätzung erfolgen müsse, die auf die Identifizierung und Priorisierung von Hochrisikopatienten fokussiere. Dafür ständen bereits international standardisierte Ersteinschätzungssysteme wie die „Manchester Triage“ zur Verfügung. Die Vorteile gegenüber SmED beständen dabei darin, dass neben den klinischen Symptomen auch Vitalwerte beurteilt würden und somit auch Patienten als Hochrisikopatienten identifiziert werden könnten, die nicht in der Lage sind, sich adäquat zu artikulieren oder die sich mit atypischen Symptomkonstellationen vorstellen.

Lösung muss aus der Ärzteschaft kommen

Hofmeister betonte, dass die Lösung des Problems der derzeit teilweise stattfindenden Fehlallokation von Notfallpatienten nicht von Politikern kommen müsse, sondern aus der Ärzteschaft selbst.

Und Henke erklärte: „Die Probleme in der Notfallversorgung lassen sich nur gemeinsam lösen, in ärztlicher Kooperation und über die Sektorengrenzen hinweg. Deshalb sollte eine Neustrukturierung der Notfallversorgung dem Grundgedanken einer sektorenübergreifenden Herangehensweise folgen, die alle beteiligten Sektoren einbezieht.“

fos

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