Praxen und Kliniken müssen Patienten ab 2029 alle Gesundheitsdaten bereitstellen

Berlin – Auf Arztpraxen und Krankenhäuser könnten mit der Umsetzung des Europäischen Gesundheitsdatenraums (EHDS) umfangreiche Datenbereitstellungspflichten zukommen. Davor warnt Sebastian Semler, Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF).
So sehe die Rechtsverordnung der Europäischen Union (EU) vor, dass ab dem 26. März 2029 jedem EU-Bürger ein sanktionsbewährtes Anrecht auf den Zugriff der eigenen Daten gewährt werde. „Das ist ein ziemlich radikaler Durchgriff“, betonte Semler bei einer Veranstaltung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).
Faktisch heiße das, dass Datenhalter ab diesem Tag die Pflicht haben, die Daten an einen interessierten EU-Bürger herauszugeben. Es könne also durchaus passieren, dass Patienten ab diesem Tag in jede Arztpraxis kommen und die Herausgabe aller ihrer über sie dort gespeicherten Daten verlangten.
„Die Frage ist: Wie gehen wir diese Pflicht an?“, unterstrich er. Für viele der in der Rechtsverordnung genannten Datenkategorien gebe es im Moment noch nicht einmal ein Konzept, wie diese bereitgestellt werden könnten. Zudem seien die meisten gar nicht in der hiesigen elektronischen Patientenakte (ePA) abgebildet.
„Ich halte diese Art, das Projekt umzusetzen, für sehr fragwürdig“, kritisierte Semler. Aus seiner Sicht wäre es sinnvoller gewesen, die Bereitstellung der verschiedenen Datenkategorien in einem Stufenplan zu regeln.
Hinzu komme, dass der EHDS nur einen regulatorischen Rechtsrahmen bilde. „Die organisatorischen Hausaufgaben müssen wir selbst erledigen.“ Alle beteiligten Akteure seien deshalb angehalten, sich nun möglichst intensiv und proaktiv einzubringen.
Das forderte auch Sylvia Thun, Direktorin der Core-Unit E-Health und Interoperabilität am Berlin Institute of Health der Berliner Charité. Sie empfiehlt beispielsweise allen Fachgruppen, sich mit dem Thema Patient Summary, also der digitalen Patientenkurzakte, auseinanderzusetzen und ihre Bedürfnisse zu adressieren.
Beim Zeitplan zur EHDS-Umsetzung zeigte sie sich optimistisch. Es gebe bereits enorme Fortschritte bei der Dateninteroperabilität. „2029 wird noch nicht die letzte Rehaklinik angeschlossen sein, aber die Grundlage wird geschaffen sein“, sagte sie.
Semler hatte zuvor gewarnt, dass es noch zu wenig Bewusstsein für die Folgen gebe, die die Einführung des EHDS haben könnte. Es wirke auf viele Akteure im Gesundheitswesen so, als sei noch viel Zeit, da die im März in Kraft getretene Verordnung vor allem zwei wichtige Fristen vorsehe.
Demnach müssen bis März 2027 mehrere wichtige Durchführungsrechtsakte mit genauen Vorschriften für die Operationalisierung der Verordnung erarbeitet werden. Vor allem aber treten im März 2029 deren wichtigste Elemente in Kraft, darunter der Austausch der ersten Gruppe vorrangiger Kategorien von Gesundheitsdaten wie Patientenkurzakten oder elektronischen Verordnungen (E-Rezepte).
Im März 2031 sollen dann weitere Gesundheitsdatenkategorien wie Laborbefunde, medizinische Bilder oder Krankenhausentlassungsberichte folgen. Ab März 2025 sollen dann Drittländer und internationale Organisationen eine Teilnahme beantragen dürfen.
Die notwendige Arbeit zur Standardisierung und Harmonisierung all dieser Gesundheitsdatenkategorien über die 27 EU-Länder hinweg sei gewaltig, betonte Semler. Es gelte an mancher Stelle, Aufgaben, an denen hierzulande seit 20 Jahren gearbeitet wird, in dreieinhalb Jahren zu erledigen.
„Deshalb müssen wir jetzt doppelt Geschwindigkeit aufnehmen, um bei diesen Strukturen aufzuholen“, sagte er. „Wir brauchen einen großen Ruck, um die Timeline zu halten.“ Andere EU-Länder seien bereits weiter. So würden skandinavische und baltische Staaten bereits beginnen, testweise Gesundheitsdaten auszutauschen.
Insbesondere die in der Verordnung festgeschriebenen Mindestkategorien elektronischer Gesundheitsdaten für die Sekundärnutzung würden für Deutschland eine große Herausforderung darstellen. So sieht die Verordnung 17 Kategorien vor, für die bei manchen noch nicht einmal eine standardisierte Infrastruktur existiere.
Neben Daten aus elektronischen Patientenakten (ePA) umfassen die beschriebenen Kategorien unter anderem auch automatisch durch Medizinprodukte generierte Gesundheitsdaten, genetische, epigenomische und genomische Daten, molekulare Daten, Daten aus klinischen Prüfungen oder aber solche aus Biobanken und zugehörigen Datenbanken.
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