Psychosen: Inzidenz schwankt international sehr stark
London – Die verbreitete Ansicht, dass Schizophrenien und andere Psychosen in allen Ländern gleich häufig auftreten, ist offenbar nicht korrekt. Eine Studie in JAMA Psychiatry (2017; doi: 10.1001/jamapsychiatry.2017.3554) ermittelt deutliche Schwankungen zwischen 17 Regionen, davon 16 in Europa, die auf starke soziale Einflüsse hinweisen.
Der Gemeinplatz, nach dem die Schizophrenie in unterschiedlichen Kulturen gleich häufig auftritt, geht auf die „Ten-Country Study“ zurück, die die Weltgesundheitsorganisation ab 1978 weltweit in 10 Ländern durchgeführt hat, von denen 2 (UdSSR, Tschechoslowakei) heute nicht mehr existieren. Die genauen Ergebnisse der vor der Internetära publizierten Studien (Psychol Med Monogr Suppl. 1992; 20: 1–97) sind offenbar heute nicht mehr bekannt, denn von einer weltweiten Homogenität der Erkrankung war gar nicht die Rede (homogen waren nur die diagnostischen Kriterien gewesen). Die Untersuchung hatte laut James Kirkbride vom University College London durchaus Unterschiede gefunden, etwa eine 2,5-fache Differenz in der Häufigkeit nicht affektiver Psychosen zwischen den einzelnen Ländern.
Eine Untersuchung des „European Network of National Schizophrenia Networks Studying Gene-Environment Interactions“ (EU-GEI) zeigt nun, dass die Unterschiede noch größer sind. Ein Team um James Kirkbride vom University College London hat die Daten aus 17 Regionen in Großbritannien, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Spanien und Brasilien zusammengetragen. Darunter waren Großstädte wie Paris und London, aber auch ländliche Regionen wie Cuenca in Spanien oder Ribeirão Preto in Brasilien.
Zwischen diesen Regionen gab es deutliche Unterschiede in der Inzidenz einer ersten psychotischen Episode (FEP). An häufigsten wurde sie im Südosten Londons diagnostiziert, wo auf 100.000 Personenjahre 21,4 FEP kamen. In Santiago de Compostela in Spanien waren es nur 6,3. In dem galizischen Wallfahrtsort (96.000 Einwohner) erkranken demnach 10-mal weniger Menschen als in der Achtmillionen-Metropole London.
Neben dem Stadt-Land-Unterschied war auch ein Nord-Süd-Gefälle nachweisbar. In Palermo, Barcelona und Madrid sind Psychosen seltener als im Marnetal südlich von Paris.
Neben geografischen spielen auch soziale Faktoren eine Rolle. Hausbesitzer scheinen seltener zu erkranken, Single-Haushalte sind dagegen häufiger betroffen. Hausbesitz ist für Kirkbride ein Zeichen von Wohlstand, der möglicherweise eine schützende Funktion hat. Single-Haushalte stehen eher für eine soziale Vereinsamung, die offenbar das Erkrankungsrisiko erhöht.
Mitglieder ethnischer Minderheiten erkranken ebenfalls häufiger, es sei denn sie leben in Gegenden mit einer hohen ethnischen Durchmischung, in der sie sich weniger als soziale Außenseiter fühlen. Der kulturelle Austausch scheint eine gewisse protektive Wirkung gegen gewisse mentale Probleme zu haben, meint Kirkbride. Die Studie zeigt seiner Ansicht nach, dass Umweltfaktoren insgesamt eine größere Bedeutung für die Entstehung psychotischer Störungen haben als vielfach angenommen.
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