Politik

Psychotherapeuten­kammer entrüstet über Lauterbachs Äußerungen

  • Mittwoch, 22. Februar 2023

Berlin – Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) wirft Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vor, die Bedürfnisse von Menschen in psychotherapeutischer Behandlung zu missachten und Patientengruppen gegeneinander auszuspielen. Die Kammer kritisiert in einem offenen Brief Aussagen Lauterbachs zum Ausbau von Therapiekapazitäten.

Anfang des Monats hatte Lauterbach bei der Vorstellung des Abschlussberichts der Arbeitsgruppe „Gesundheitliche Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche durch Corona“ (IMA) erklärt, es sei nicht sinnvoll, zusätzliche Kassensitze für Psychotherapie zu schaffen. Denn diese würden dann lieber „leichte Fälle über längere Zeit“ behandeln wollen, zitiert ihn die BPtK.

Kammerpräsident Dietrich Munz sieht darin einen Affront. Die mehr als 55.000 Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeuten in Deutschland seien empört über die Behauptung, dass in der ambulanten Psychotherapie vor allem „leichte Fälle“ versorgt würden.

„Dies ist eine Unterstellung, die jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt“, schrieb Munz an Lauterbach. Zugleich komme die Aussage „einem Schlag ins Gesicht“ aller Patientinnen und Patienten gleich, die psychotherapeutische Hilfe suchen.

Es sei nämlich für viele von ihnen immer noch ein schwerer Schritt, sich wegen ihrer psychischen Erkrankung professionelle Hilfe zu suchen. „Es ist völlig inakzeptabel, Patientinnen und Patienten gegeneinander auszuspielen und zu suggerieren, dass einige Patientinnen und Patienten den Therapieplatz für andere räumen sollten“, betonte Munz.

Es dürfe nicht passieren, dass von einer notwendigen Debatte um die Stärkung der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung das Signal ausgeht, dass sich Patienten erst dann psychotherapeutische Hilfe holen dürfen, wenn sie besonders schwer erkrankt sind.

„Eine solche Perspektive ist zutiefst unethisch, aber auch medizinisch und gesundheitsökonomisch völlig widersinnig“, kritisierte Munz. „Wir fordern Sie deshalb auf, die Versorgung von allen Patienten mit psychischen Erkrankungen in den Blick zu nehmen und ein Ausspielen der einzelnen Patientengruppen zu unterlassen.“

Der BPtK nimmt diesen Faden direkt auf und bittet Lauterbach um eine „evidenzorientierte Diskussion“ zur Verbesserung der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung. Denn seine Behauptungen zu den Patientengruppen und den Ursachen für lange Wartezeiten durch zu lange Behandlungsdauern seien durch zahl- und umfangreiche Studien und Analysen vielfach widerlegt.

Als Beispiele nennt Munz unter anderem das Modellvorhaben der Techniker Krankenkasse zum Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie. Es habe gezeigt, dass Patienten der ambulanten Langzeitpsychotherapie durch schwere Krankheitsverläufe gekennzeichnet und vergleichbar stark erkrankt sind wie Patienten der psychosomatischen Krankenhausbehandlung und der stationären psychosomatischen Rehabilitation.

Auch das Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) sei bereits 2019 zu dem Schluss gekommen, dass die große Mehrzahl der Patienten in ambulanter Psychotherapie an zwei oder mehr psychischen Störungen leidet.

Weiter habe sich gezeigt, dass sich der Anteil von Kurzzeittherapien und Akutbehandlungen im Vergleich zur Langzeitpsychotherapie seit der Reform der Psychotherapierichtlinie im Jahr 2017 nochmals erhöht hat.

Von den Patienten in der psychotherapeutischen Sprechstunde, die eine psychotherapeutische Behandlung benötigen, würden demnach über 80 Prozent eine Kurzzeittherapie von höchstens 24 Stunden beginnen, während nur knapp 15 Prozent direkt eine Langzeittherapie beginnen oder innerhalb der untersuchten 15 Monate die Kurzzeittherapie verlängern.

Es sei nun ein Büdel an Maßnahmen erforderlich, um die psychotherapeutische Versorgung zu stärken: So müssten alle niedergelassenen Psychotherapeuten die Komplexversorgung von schwer psychisch kranken Menschen koordinieren dürfen.

„Zusätzliche Behandlungskapazitäten für die Komplexversorgung schwer psychisch erkrankter Patientinnen und Patienten müssen gezielt geschaffen werden, indem der Praxisumfang erweitert und dadurch mehr Behandlungsplätze angeboten werden können“, fordert Munz in seinem Brief. „Vorgeschriebene Doppeluntersuchungen müssen abgeschafft werden, denn sie vergeuden wertvolle Behandlungskapazitäten.“

Außerdem müssten über eine nachhaltige Reform der Bedarfsplanung zusätzliche Kassensitze insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen sowie dem Ruhrgebiet geschaffen werden.

„Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel, die langen Wartezeiten auf einen psychotherapeutischen Behandlungsplatz zu reduzieren, muss endlich umgesetzt werden“, so Munz.

Lauterbachs Reformvorschläge, mittels Sonderbedarfszulassungen und Ermächtigungen die Versorgung von psychisch kranken Menschen zu stärken, seien demgegenüber weder eine schnelle noch eine flächendeckende Lösung, um lange Wartezeiten in der Psychotherapie zu reduzieren.

Beide würden nämlich rechtssystematisch stets auf langwierigen Einzelfallentscheidungen der Zulassungsausschüsse von Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen beruhen.

„Dies wird das Koalitionsziel nicht erfüllen und auch nicht dazu beitragen, Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen den Weg in die Versorgung zu erleichtern“, prognostiziert Munz. Er und die BPtK würden deshalb gern für ein persönliches Gespräch zur Verfügung stehen, um sich über Vorschläge und Faktenlage auszutauschen.

lau

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