Politik

Regierung verteidigt schrittweise Lockerungen in der Coronakrise

  • Donnerstag, 16. April 2020
Helge Braun (CDU) /picture alliance, Oliver Killig
Helge Braun (CDU) /picture alliance, Oliver Killig

Berlin – Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) hat die schrittweise Lockerung der Schutzmaßnahmen in der Coronakrise verteidigt. „Wir haben uns das alle nicht leicht gemacht, weil wir spüren, dass die Menschen gerne wieder auf die Straße wollen“, sagte Braun im ARD-Morgenmagazin. Doch die Epidemie sei „nicht weg“, sie sei nur „massiv verlangsamt“ worden. Dies sei „ein großes Verdienst der Menschen in Deutschland“.

Die Kritik des Handels an dem Plan, dass zunächst nur Geschäfte von bis zu 800 Quadrat­metern Fläche öffnen dürfen, könne er verstehen. „Aber wir müssen dafür sorgen, dass es nicht nur im Geschäft vernünftig läuft, sondern dass es auch in den Innenstädten nicht zu Überfüllung kommt“, sagte Braun.

„Normal gefüllte Fußgängerzonen, wie wir das von früher kennen, können wir momen­tan nicht riskieren.“ Deshalb müsse dafür gesorgt werden, dass der Publikumsverkehr etwas geringer ausfällt. Große Geschäfte, „die häufig Publikumsmagnete sind“, müssten deshalb noch eine Weile geschlossen bleiben.

Braun (CDU) riet auch davon ab, Familienfeste wie etwa Hochzeiten für den Sommer zu planen. In der aktuellen Lage sei dies nicht zu empfehlen, sagte er Bild Live. „Die Gefahr, dass man sie kurzfristig wieder absagen muss, weil das Virus noch den ganzen Sommer über im Land sein wird, ist einfach zu groß.“

Braun fügte hinzu, eine Familienveranstaltung mit 150 Gästen aus dem ganzen Bundes­gebiet sei „aus der Sicht des Infektionsgeschehens momentan auch nicht gut“. Die Bun­desregierung werde die Lockerungsmaßnahmen aber alle zwei Wochen präzisieren.

„Dazu gehört auch zu prüfen, ab wie vielen Teilnehmern eine Veranstaltung untersagt bleibt“, sagte Braun. Veranstaltungen über tausend Teilnehmer würden bis August aber „ganz sicher“ untersagt bleiben. Derzeit sind überhaupt keine Veranstaltungen erlaubt.

Gesundheitssystem vor Überlastung schützen

Auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) verteidigte das schrittweise Vorge­hen von Bund und Ländern. „Ich verstehe, dass jeder Bereich, der noch Einschränkungen unterliegt, möglichst schnell Lockerungen möchte“, sagte Altmaier der Saarbrücker Zei­tung. Die Politik könne aber „den Gürtel nur stufenweise weiter schnallen, um unser Ge­sundheitssystem nicht zu überlasten und die Neuinfizierten-Rate möglichst gering zu halten“.

Altmaier betonte, nach schwierigen Diskussionen sei eine verantwortliche Lösung von Bund und Ländern gefunden worden. Sobald der Gesundheitsschutz neue wirtschaftliche Handlungsmöglichkeiten eröffne, werde neujustiert. „Wir prüfen unser Vorgehen konti­nuierlich anhand der Pandemie-Zahlen und Erfahrungen aus anderen Ländern.“ Die Rück­kehr zur Normalität werde aber noch eine Weile dauern „und es wird ein Weg der kleinen Schritte sein“, sagte Altmaier.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder hatten sich gestern auf eine schrittweise Öffnung für den Einzelhandel geeinigt. Geschäfte mit einer Fläche von bis zu 800 Quadratmetern sollen wieder aufmachen dürfen, wenn sie über ein Schutzkonzept verfügen. Am 30. April wollen Merkel und die Länderchefs dann über das weitere Vorgehen nach dem Stichtag 3. Mai beraten.

Lob und Kritik an den Beschlüssen

Die Beschlüsse stießen auf ein geteiltes Echo. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauter­bach kritisierte die ersten Lockerungen. „Mir wäre als Epidemiologe die striktere Weiter­führung der Kontaktsperren deutlich lieber“, sagte Lauterbach t-online.de. Insbeson­dere kritisierte er, dass die Schutzvorkeh­run­gen nun „ohne Masken, App und Massentests“ gelockert würden.

Grünen-Chef Robert Habeck lobte die Be­schlüsse. Aus Sicht der Grünen seien diese „insgesamt angemessen“, sagte Habeck in Flensburg. „Sie geben eine gewisse Lockerung und damit Licht am Horizont. Aber sie sind vorsichtig genug, so dass wir auch nach unseren Zahlen, nach dem, was wir wissen, nicht in eine zu große Gefahr reinlaufen, das Gesundheitssystem zu überfordern.“

Habeck sagte, es sei gut, dass man sich insgesamt geeinigt habe. Die Menschen sollten nicht das Gefühl bekommen, dass es um Parteitaktik gehe. Die Bundesregierung müsse aber besser darin werden, die Voraussetzungen für weitere Lockerungen zu schaffen, et­wa mit der Ausstattung mit Schutzmasken und Schutzkleidung. An die Kultusminister der Länder appellierte er, die Kinder, die noch nicht wieder in die Schule oder Kita gehen könnten, nicht alleine zu lassen. Die Chancengleichheit müsse gewahrt bleiben.

Aus der FDP-Bundestagsfraktion kommt hingegen Kritik. „Kanzlerin und Ministerpräsi­denten bleiben eine umfassende Öffnungsstrategie und klare Kriterien weiter schuldig“, sagte Fraktionsvize Michael Theurer. Viele Betriebe könnten sich weiter nicht auf das Wiederanlaufen vorbereiten.

Keine Zukunftsperspektive

Es fehle die Zukunftsperspektive, um die Verlängerung der Kontaktbeschränkungen besser zu meistern. „Zudem ist eine Verzahnung mit dem heute von der EU-Kommission vorgestellten EU-Exitplan so ungleich schwerer geworden.“ Die Vorlage eines Fahrplans für das Ende der Kontaktsperren hätte das Primat des Gesundheitsschutzes nicht in Frage gestellt.

Theurer sagte, die Quadratmetervorgaben für die Geschäfte seien völlig willkürlich. „Es ist nicht ersichtlich, warum in kleineren Geschäften das Einhalten des Abstands besser funktionieren soll als in großen Geschäften. Zentral ist, dass die Geschäfte nicht überfüllt sind. Das funktioniert aber besser, wenn mehr Geschäfte offen sind.“

Linken-Chefin Katja Kipping bezeichnete die Beschlüsse als sozial unausgewogen. Die Bundeskanzlerin habe sich mit einem Konzept durchgesetzt, an dem schon der Grund­gedanke falsch sei, erklärte Kipping in Berlin. „Statt die Gesundheit und damit auch das Leben vieler Menschen als oberste Priorität zu setzen, steht das Ankurbeln der Wirtschaft jetzt im Zentrum“, bemängelte sie.

Wenn die Geschäfte öffneten, seien auch viele Beschäftigte mit Kindern wieder auf der Arbeit gefragt – und das bei geschlossenen Schulen und Kitas. „Es besteht die Gefahr, dass damit die gesamte Last der kommenden Wochen auf den Schultern der Beschäftig­ten mit Kindern abgeladen wird“, so Kipping.

Scharfe Kritik von der AfD

Der AfD-Co-Vorsitzende Tino Chrupalla attackierte die Kanzlerin scharf: „Auch auf dem Höhepunkt der Coronakrise gibt Bundeskanzlerin Merkel ein kümmerliches Bild ab“, er­klärte er. „Zu entscheidungsschwach, zu zögerlich ist ihr Handeln, als dass sie Deutsch­land in dieser schweren Zeit aus der Gefahr führen könnte.“

AfD-Fraktionschef Alexander Gauland erklärte: „Wir befürworten die Öffnung von Geschäf­ten, in denen die Abstandsregeln eingehalten werden können." Er fügte zugleich hinzu: „Sollten Restaurants tatsächlich bis Ende August geschlossen bleiben müssen, halten wir das für falsch, das würde die Gastronomiekultur in Deutschland zum Erliegen bringen.“

Die Kliniken in Deutschland hatten bereits vor der Entscheidung eine behutsame Norma­lisierung bei aufgeschobenen wichtigen Eingriffen ins Spiel gebracht. „Die derzeitige Situation in den Krankenhäusern erlaubt eine vorsichtige, schrittweise Wiederaufnahme der Regelversorgung“, sagte der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß.

Von Bund und Ländern würden daher Aussagen dazu erwartet, drastisch zurückgestellte Behandlungen wieder aufnehmen zu dürfen. Trotzdem könnte auch schnell darauf rea­giert werden, falls es wieder deutlich steigende Infektionszahlen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 geben sollte.

Viele Kliniken haben nach Aufrufen der Politik planbare Operationen und Aufnahmen ausgesetzt – dies soll freie Kapazitäten sichern, wenn viele schwerkranke Corona-Patien­ten kommen sollten. Viele Kliniken meldeten inzwischen Belegungsrückgänge von 30 Prozent und mehr, erläuterte die DKG. Es gebe somit 150.000 freie Klinikbetten und etwa 10.000 freie Intensivplätze.

Eine problematische Situation gebe es auch bei Notfällen. „Wir haben aus Kliniken be­sorg­niserregende Rückmeldungen, dass die Einweisungen wegen Verdachts auf Herz­inf­arkt und Schlaganfall deutlich zurückgegangen sind“, sagte Gaß.

Das liege nicht daran, dass es weniger Verdachtsfälle gebe – manche Patienten wollten aus Angst vor Corona kein Krankenhaus betreten, um sich behandeln zu lassen. Es gebe aber keinen Grund, notwendige Behandlungen aufzuschieben. Der Infektionsschutz sei gewährleistet. „Jeder, der ein Problem hat, sollte unbedingt auch ein Krankenhaus aufsu­chen.“

Maßnahmen reichen nicht aus

Vom Ärzteverbund Medi Geno Deutschland kam zwar grundlegende Zustimmung zu den Plänen. Werner Baumgärtner, Vorstandsvorsitzender von Medi Geno, forderte aber für die weiteren Schritte mehr Daten, Zahlen und Transparenz, wie beispielsweise bundes- und landesweite Stichproben. „Die bisherigen Daten reichen nicht aus, um eine weitere Öff­nung des öffentlichen Lebens verantwortungsvoll umzusetzen“, warnte er.

Es brauche mehr, als nur täglich die Zahlen der Infizierten, Verstorbenen oder Genesenen zu veröffentlichen. „In den Anfängen der Pandemie waren diese Veröffentlichungen und die politischen Maßnahmen richtig. Aber wir sind immer noch im Blindflug unterwegs und man hätte bereits deutlich früher Stichproben erheben können, um die Bedingungen für die Exit-Strategie zu verbessern. Solche Stichproben hätte man in Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten schnell bekommen“, so Baumgärtner.

Im Verlauf der Pandemie hat sich gezeigt, dass das entscheidende Kriterium für die Bewältigung der Krise die Zahl der Intensivbetten und Beatmungsplätze mit Ärzte- und Pflegeteams ist, die in der Lage sein müssen, den Ansturm an Schwerstinfizierten zu bewältigen.

„Alle brauchen aber natürlich auch Schutzkleidung und -masken, was bisher schlecht funktioniert hat“, kritisiert Baumgärtner und ergänzt: „Auch die Haus- und Facharztpraxen müssen endlich genügend Schutzkleidung bekommen, denn es gibt neben COVID-19 nach wie vor schwere und tödliche chronische und akute Erkrankungen, die sie unter schwierigen Bedingungen behandeln müssen.“

dpa/afp

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