„Das Vergütungssystem schafft keine Anreize, Patienten schnell von einer Beatmung zu entwöhnen“
Heidelberg – Seit Jahren steigt die Zahl der Patienten an, die in einer außerklinischen Langzeitbeatmung vielfach in sogenannten Weaning-WGs leben, obwohl sie von der Beatmung entwöhnt werden könnten. Franziska Trudzinski verantwortet das Projekt PRiVENT, mit dem die Patienten identifiziert werden sollen, bei denen eine Entwöhnung möglich wäre. Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) erklärt die Pneumologin, Intensivmedizinerin und stellvertretende Leiterin der allgemeinen Ambulanz an der Thoraxklinik Heidelberg, weshalb so viele tracheotomierte Patienten in der außerklinischen Langzeitbeatmung leben und wie man sie wieder entwöhnen kann.

Fünf Fragen an Franziska Trudzinski, PRiVENT
DÄ: Frau Dr. Trudzinski, wie hat sich die außerklinische Langzeitbeatmung in den vergangenen Jahren entwickelt.
Franziska Trudzinski: Wir sehen einen rasanten Anstieg an Patienten, die im Anschluss an eine erfolglose Beatmungsentwöhnung, also ein Weaning, in die außerklinische Langzeitbeatmung entlassen werden. Genaue Zahlen hierzu sind nicht bekannt. Wir gehen jedoch davon aus, dass in Deutschland derzeit circa 20.000 invasiv beatmete Patienten ambulant betreut werden.
2005 lag diese Zahl noch bei circa 5.000 Fällen. Dieser Anstieg lässt sich auch in einer Zunahme der stationären Behandlungsfälle von langzeitbeatmeten Patienten abbilden. Die Anzahl stationärer Behandlungsfälle von Langzeitbeatmeten stieg zwischen den Jahren 2006 und 2016 von 25.000 auf 86.000 an, also um mehr als das Dreifache innerhalb von zehn Jahren.
Sehr häufig werden invasiv beatmete Patienten in die außerklinische Intensivpflege entlassen, ohne dass zuvor das Weaningpotenzial in einem zertifizierten Weaningzentrum überprüft wurde. Eine aktuelle Analyse des WeanNet-Registers mit 11.424 Patienten aus den Jahren 2011 bis 2016 zeigt, dass Patienten, die von anderen Intensivstationen zur Entwöhnung von der Beatmung in spezialisierte Weaningeinrichtungen verlegt wurden, in mehr als zwei Dritteln der Fälle erfolgreich entwöhnt werden konnten.
Diese Zahlen sprechen aus unserer Sicht zum einen für eine Versorgung dieser Patienten durch die Zentren und zum anderen für den möglichst frühzeitigen Beginn einer spezialisierten Beatmungsentwöhnung. Diejenigen Patienten, die aus einem Weaningzentrum in die außerklinische Langzeitbeatmung entlassen wurden, wiesen vor der Verlegung auf die Weaningstation häufiger bestimmte Risikofaktoren auf, zum Beispiel eine längere Beatmungsdauer, einen niedrigeren Body-Mass-Index, neuromuskuläre Erkrankungen und ein fortgeschrittenes Alter.
DÄ: Inwiefern hat die Beschaffenheit des deutschen Gesundheitswesens zur Schaffung dieser Situation beigetragen?
Trudzinski: Generell schafft unser derzeitiges Vergütungssystem keine Anreize, Patientinnen und Patienten auf Intensivstationen möglichst schnell von der Beatmung zu entwöhnen. Fehlanreize bestehen aber auch im ambulanten Bereich. Die außerklinische Intensivpflege ist ein ressourcen- und kostenintensiver Bereich, der sich in den letzten Jahren relativ unkontrolliert entwickelt hat.
Die Kosten für die ambulante Versorgung langzeitbeatmeter Patienten belasten unser Gesundheitssystem jährlich mit circa vier Milliarden Euro. Nicht immer ist diese Entwicklung im Sinne der Patienten. Als Pneumologen und Intensivmediziner dürfen wir an dieser Stelle nicht wegschauen.
DÄ: Welches Ziel verfolgen Sie mit dem Projekt PRiVENT?
Trudzinski: Mit der PRiVENT-Studie möchten wir Risikopatienten auf den Intensivstationen frühzeitig erkennen und sie über einen präventiven Ansatz, mithilfe einer frühzeitigen Intervention durch interprofessionelle Teams, aus den Weaningzentren mitbehandeln. So soll bei Risikopatienten eine Vermeidung von Langzeitbeatmung erreicht werden. Die Effekte dieser Maßnahmen wollen wir im Rahmen der PRiVENT-Intervention untersuchen.
DÄ: Wo steht das Projekt derzeit?
Trudzinski: Aktuell befinden wir uns in einer sehr spannenden Projektphase, da wir kurz vor dem Start der zweijährigen Intervention stehen, die am 1. Juli beginnt. Auf den 40 Intensivstationen der PRiVENT-Kooperationskliniken, die wir derzeit in Baden-Württemberg rekrutieren, sollen Patienten mit einem hohen Risiko für eine Langzeitbeatmung im Rahmen der Interventionsphase einer fallspezifischen Intervention zugeführt werden.
Um das individuelle Risiko für eine Langzeitbeatmung im Anschluss an eine Intubation bereits in der frühen Phase einer intensivmedizinischen Behandlung abschätzen zu können, haben wir gemeinsam mit dem aQua-Institut in Göttingen auf Basis der Abrechnungsdaten von knapp 8.000 vollstationären Krankenhausaufenthalten von Versicherten der AOK-Baden-Württemberg-Versicherten ein Prognosemodell erstellt. Im Rahmen der PRiVENT-Intervention soll dieses Prognosemodell bei circa 4.000 Patientinnen und Patienten auf den 40 teilnehmenden Intensivstationen zum Einsatz kommen.
Wir gehen davon aus, dass wir hierbei circa 1.495 Hochrisikopatienten identifizieren können. Die Patienten der Hochrisikogruppe werden noch während der Akutphase ihrer intensivmedizinischen Behandlung durch erfahrene interprofessionelle Teams aus den zertifizierten Weaningzentren in Baden-Württemberg konsiliarisch mitbetreut. Dabei handelt es sich um die Klinik Löwenstein, die Klinik Schillerhöhe, das Universitätsklinikum Heidelberg und die Waldburg-Zeil Akutkliniken.
Die Mitbetreuung umfasst regelmäßig in den Zentren stattfindende Weaningboards sowie Weaningkonsile vor Ort durch Atmungstherapeuten und Pneumologen aus den jeweiligen Weaningzentren.
DÄ: Welche weiteren Schritte sind geplant?
Trudzinski: Das Projekt wird von einem E-Learning-Programm zu unterschiedlichen Themen der Beatmungsentwöhnung begleitet, das die Weaningkompetenz in den Kooperationskliniken stärken soll. Darüber hinaus sind regelmäßig stattfindende Qualitätszirkel geplant. Die Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen des Projektes soll die gesellschaftliche Diskussion von Themen wie Beatmungsentwöhnung und Langzeitbeatmung auf unterschiedlichen Ebenen fördern.
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