„Die psychischen Traumatisierungen werden massiv sein“
Hannover – Der Bedarf an rehabilitativen Leistungen in der ukrainischen Bevölkerung wird nach dem Krieg erheblich sein. Darauf weist der Chefarzt und Abteilungsleiter der Klinik für Rehabilitationsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), Christoph Gutenbrunner, im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ) hin.
Der Past President der Global Rehabilitation Alliance erklärt, wie sich das ukrainische Reha-System in den vergangenen Jahren entwickelt hat und weshalb Deutschland der Ukraine bei der Versorgung der Menschen mit Rehabilitationsbedarf unbedingt helfen sollte.

5 Fragen an Christoph Gutenbrunner, Medizinische Hochschule Hannover
DÄ: Wie ist das System der Rehabilitation in der Ukraine organisiert?
Gutenbrunner: Das Rehabilitationssystem in der Ukraine befindet sich noch im Aufbau, wobei in den vergangenen fünf bis sieben Jahren deutliche Fortschritte erzielt worden sind.
Traditionell fußt es auf dem in der früheren Sowjetunion üblichen Modell von Rehabilitationskliniken überwiegend in Kurorten, die nicht nur eine medizinische, sondern auch eine soziale Funktion hatten.
Seit 2016 hat die Ukraine begonnen, dieses System zu reformieren beziehungsweise die Rehabilitation neu zu organisieren. Hierzu gehören zum Beispiel die Einführung einiger Rehabilitationsfachberufe, die bisher nicht existent waren – zum Beispiel im Bereich der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin und der Ergotherapie –, die Implementation von Konzepten der Frührehabilitation im Krankenhaus sowie der Aufbau einer postakuten Rehabilitation.
Gleichzeitig wurden die indikationsbegründenden Modelle adaptiert und auf das WHO-Modell der Funktionsfähigkeit umgestellt, was erhebliche Auswirkungen auf die Einstufung von Menschen mit Behinderung haben dürfte. Aber – wie gesagt – das System befindet oder befand sich in einem Stadium des Aufbaus beziehungsweise der Reform. Es ist zu befürchten, dass dieser Prozess nun nachhaltig unterbrochen sein wird.
DÄ: Wie ist Ihre Einschätzung: Wie groß wird der Bedarf an rehabilitativen Leistungen nach dem Krieg in der Ukraine sein?
Gutenbrunner: Das ist zahlenmäßig derzeit natürlich nicht abzuschätzen. Aber es ist klar, dass erhebliche Rehabilitationsbedarfe erzeugt werden. Dies sind einerseits Bedarfe, die sich aus den körperlichen Verletzungen ergeben, und zwar sowohl in der Zivilbevölkerung als auch bei den Kämpferinnen und Kämpfern.
Und es kann nicht genug betont werden, dass auch die psychischen Traumatisierungen massiv sein werden. Es wird also ein erheblicher Bedarf an traumatologischer und psychosomatischer Rehabilitation entstehen. Einen gewissen Eindruck hiervon konnte man schon vor dem jetzigen Angriffskrieg feststellen, nämlich bei den Kämpfern im ostukrainischen Donbass sowie der dort lebenden Zivilbevölkerung.
DÄ: Wie wird das Reha-System in der Ukraine aus Ihrer Sicht nach dem Krieg beschaffen sein?
Gutenbrunner: Auch das ist noch nicht abzuschätzen. Es ist mir derzeit nicht bekannt, ob Rehabilitationseinrichtungen bereits zerstört worden sind. Die Gefahr ist aber in jedem Fall gegeben. Es wird jedoch ein weiteres Problem hinzukommen.
In einem zerstörten Land verschieben sich natürlich die Prioritäten bei insgesamt stark begrenzten Ressourcen, so dass die Notwendigkeit, Mittel in die Rehabilitation zu investieren, politisch eingefordert werden muss. Ich vermute, dass eine erhebliche Aufbauarbeit zu leisten sein wird.
DÄ: Kann und sollte Deutschland die Ukraine bei Reha-Leistungen für Menschen aus der Ukraine unterstützen?
Gutenbrunner: Ein klares ja! Erstens, weil – wie bereits erläutert – der Rehabilitationsbedarf stark ansteigen wird und zweitens, weil die Ressourcen im Land für den Aufbau oder Wiederaufbau des Rehabilitationssystems aller Voraussicht nach nicht ausreichen werden.
Nicht vernachlässigt werden darf auch der rehabilitative Versorgungsbedarf von Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. Diese sind von kriegerischen Aktivitäten naturgemäß am stärksten betroffen und benötigen dringend Hilfen und Unterstützung. Dies ist in einem laufenden Krieg allerdings eine extreme Herausforderung und wird wohl nur durch massive politische Einflussnahme realisierbar sein.
DÄ: Wie könnte Deutschland die Ukraine genau unterstützen?
Gutenbrunner: Ein erster notwendiger Schritt muss die Aufnahme von Menschen mit dringendem Rehabilitationsbedarf nach Deutschland sein, ähnlich wie sich Kliniken ja schon darauf vorbereiten, schwerverletzte Menschen akutmedizinisch zu behandeln. Längerfristig muss es aber vor allem darum gehen, das Rehabilitationssystem in der Ukraine selbst auf- beziehungsweise auszubauen.
Hierfür werden einerseits finanzielle Ressourcen, aber auch Know-how gebraucht werden. Ich halte es für dringlich, hierfür schon jetzt Konzepte zu entwickeln. Hierzu sollten sich Verantwortliche aus der Politik, aus dem Rehabilitationssektor, aber auch aus den Fachverbänden möglichst kurzfristig zusammenfinden.
Dabei müssen die Aktivitäten international abgestimmt werden, zum Beispiel mit anderen europäischen Ländern, die Hilfe leisten wollen und können, aber auch mit internationalen Organisationen, wie dem Internationalen Roten Kreuz und Nichtregierungsorganisationen.
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