5 Fragen an...

„Digitale Gesundheitsdienste sind höherschwellige Anwendungen“

  • Donnerstag, 6. April 2023

Berlin – Personalisierte digitale Gesundheitsanwendungen bieten große Chancen für eine bessere Versorgung – gerade auch für ältere Menschen. Doch viele von ihnen können sie nicht ohne Hilfe nutzen.

Diese Hilfe sollte von vertrauenswürdigen und fachkundigen Stellen wie Arztpraxen und Pflegdiensten kommen, sagt der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Herbert Kubicek, der kürzlich die Erfahrungsorte des Digitalpakts Alter des Bundesfamilienministeriums evaluierte.

Diese Stellen seien darauf aber nicht hinreichend vorbereitet und die Politik unterschätze die damit verbun­denen Herausforderungen quantitativ und qualitativ immer noch.

Herbert Kubicek /privat
Herbert Kubicek /privat

Fünf Fragen an Herbert Kubicek, Senior Researcher am Institut für Informationsmanagement Bremen und bis 2011 Professor für Angewandte Informatik an der Universität Bremen

Herr Professor Kubicek, sind ältere Menschen derzeit von den digitalen Entwicklungen abgehängt?
Seit langem ist bekannt, dass deutlich weniger ältere Menschen das Internet und Apps nutzen als Jüngere. Nach Angaben des Statisti­schen Bundesamtes haben zum Stichtag 31. Dezember 2021 etwa 8,5 Millionen Menschen über 60 Jahre noch nie das Internet genutzt.

In der Altersgruppe 70 bis 74 Jahre sind es 30 Prozent, absolut also 1,2 Millionen Menschen in Deutschland, in der Altersgruppe 80 bis 84 Jahre 64 Prozent beziehungsweise 2,2 Millionen Menschen.

Wie sieht das speziell im Gesundheitsbereich aus?
Die genannten Zahlen beziehen sich auf die Aussage, ob jemand das Internet zumindest gelegentlich nutzt. Das bedeutet nicht, dass diese „Onliner“ auch digitale Gesundheitsdienste nutzen.

Die meisten Älteren beschränken sich auf die Informationssuche mit Suchmaschinen, insbesondere auf Google, und die Kommunikation mit Verwandten und Bekannten, insbesondere per WhatsApp. Bei der Infor­mationssuche werden Gesundheitsinformationen deutlich seltener gesucht als aktuelle Meldungen, Verkehrs­verbindungen, Reise- und Touristikinformationen.

Nach der bundesweit größten Umfrage zur Internetnutzung im Alter mit rund 13.000 Seniorinnen und Senio­ren im Bundesland Bremen versenden und empfangen 82 Prozent E-Mails und 71 Prozent nutzen Sofortnach­richten sowie 30 Prozent Videokonferenzen – aber nur ein Prozent eine Videosprechstunde mit einem Arzt.

66 Prozent der Seniorinnen und Senioren haben schon einmal online eingekauft, aber nur 23 Prozent haben Medikamente in einer Online-Apotheke bestellt. Das bedeutet, dass zu den 8,5 Millionen „Offlinern“ mindes­tens noch einmal acht bis zehn Millionen Wenignutzende hinzukommen, die von sich aus Gesundheitsanwen­dungen nicht nutzen, obwohl gerade sie sich zum Teil beschwerliche Wege ersparen könnten. Mehr dazu findet man übrigens online.

Wo sehen Sie die Gründe für die geringe Nutzung der digitalen Anwendungen durch ältere Menschen?
Der Hauptgrund für den Nutzungsverzicht liegt bei beiden Gruppen nach verschiedenen Umfragen überein­stimmend in einem nicht erwarteten Nutzen und einem geringen Selbstvertrauen, die vermutete Komplexität bewältigen zu können. Diese Einstellungen können nicht mit Werbebroschüren und für die Offliner auch nicht mit Erklärvideos auf Onlineportalen verändert werden.

Die personalisierten digitalen Gesundheitsdienste wie Videosprechstunde, E-Rezept oder elektronische Patien­tenakte sind höherschwellige Anwendungen mit einer objektiv größeren Komplexität und mit höheren Kompetenzanforderungen.

Man muss sich aus Sicherheitsgründen nicht nur einmal registrieren, sondern bei jeder Anwendung mit einem Passwort authentifizieren, das man geheim halten und nicht aufschreiben soll. Bei der Zwei-Faktor Authentifi­zierung soll man noch ein zweites Gerät registrieren und nutzen.

Es ist älteren Menschen, die mit diesen Technologien im Beruf nicht vertraut wurden, nicht zu verdenken, dass viele die digitale Kommunikation und Interaktion meiden, solange es die gewohnten analogen Wege noch gibt – auch wenn diese etwas beschwerlicher sind.

Wie lässt sich nach Ihrer Ansicht die digitale Teilhabe älterer Menschen fördern?
Medien sind Erfahrungsgüter, deren Nutzen man erst erkennt, wenn man sie nutzt. Bei digitalen Medien sind die Voraussetzungen dafür hoch. Man braucht ein Smartphone oder Tablet mit Internetzugang, die erforderli­chen technischen Kompetenzen, Selbstvertrauen und Personen des Vertrauens, die überzeugen, einweisen und bei immer wieder auftretenden Problemen helfen.

In der neuen Digitalstrategie des BMG wird dieses Problem erkannt. Im Kapitel „Digital kompetente und souveräne Bürgerinnen und Bürger“ heißt es: „Bei der beschriebenen Umgestaltung von Prozessen ist zu berücksichtigen, dass bestimmte Gruppen (zum Beispiel Menschen mit relativ geringer Digitalaffinität oder Digital-Health-Literacy) spezifische Angebote und gegebenenfalls Hilfestellungen benötigen.“ Es bleibt aber offen, welche Gruppen dies im Einzelnen sind und welche Hilfestellungen genau erforderlich sind. Deren Komplexität wird vermutlich nicht erkannt.

Zu fordern wäre daher eine „responsive Digitalisierungspolitik“, die den unterschiedlichen Wohn- und Lebens­situationen älterer Menschen zwischen 60 und weit über 90 Jahren mit ihren jeweiligen körperlichen, geisti­gen und finanziellen Möglichkeiten Rechnung trägt.

In der Digitalstrategie sollen nicht näher bezeichnete „Vertreterinnen und Vertreter der Gesundheits- und Sozialberufe“ nicht nur selbst digital kompetent gemacht werden, sondern auch „befähigt werden, andere Akteure bei der Nutzung digitaler Anwendungen zu unterstützen und als Multiplikatoren zu wirken.“

Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Zu beachten ist jedoch, dass dazu nicht nur eine umfassende Weiter­bildung der Fachkräfte in der Gesundheitsberatung, den Arztpraxen, der ambulanten Pflege sowie in Wohn- und Pflegeeinrichtungen erforderlich ist, sondern dass diese Überzeugungs- und Einweisungstätigkeiten so­wie anschließende gelegentliche Unterstützungsleistungen Zeit benötigen, die zu einem erhöhten Personal­bedarf in diesen chronisch unterbesetzen Berufen führen.

Sie haben jüngst die Erfahrungsorte des DigalPakts Alter evaluiert. Sind diese geeignet, um die Digitalkompetenz Älterer zu erhöhen?
Die vom Bundesfamilien- und Seniorenministerium gehegte Hoffnung, dass mit dem Digitalpakt Alter die digitale Teilhabe älterer Menschen insgesamt und auch speziell in dem Bereich Gesundheit und Pflege wesentlich verbessert werden kann, hat die Evaluation leider nicht bestätigen können.

In dem vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der Bundesarbeits­gemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) 2021 gegründeten Digitalpakt Alter wurden unter ande­rem in zwei Runden 2021 zunächst 100 und 2022 weitere 50 Einrichtungen als sogenannte Erfahrungsorte für ein eigenes konzipiertes Projekt mit 3.000 beziehungsweise 2.000 Euro befristet gefördert. Das Ziel bestand darin, älteren Menschen niedrigschwellig digitale Kompetenzen zu vermitteln, Interesse zu wecken, Ängste abzubauen und positive Erfahrungen zu ermöglichen.0

Als Erfahrungsort haben sich vor allem Seniorentreffs, Seniorenbüros oder -netzwerke, Begegnungsstätten, Bürgerhäuser sowie Vereine und Initiative für Seniorinnen und Senioren beworben. In den Bewerbungen sollte eine Zuordnung zu einem der fünf Handlungsfelder aus dem Achten Altersbericht erfolgen.

Von 149 geförderten Konzepten beziehungsweise Projekten entfielen 56 Prozent auf das Handlungsfeld Sozi­ale Integration, 17 Prozent auf Mobilität, zwölf Prozent auf Quartiersentwicklung, acht Prozent auf Wohnen und nur sieben Prozent auf das Handlungsfeld Gesundheit und Pflege.

Dies dürfte daran liegen, dass die sich die zu vermittelnden Kompetenzen in diesen fünf Handlungsfeldern deutlich unterscheiden und die Unterstützungskräfte, die in den Erfahrungsorten ihre eigenen Erfahrungen und Kenntnisse weitergeben, darauf unterschiedlich vorbereitet sind.

Nach den Angaben von 131 Helfenden wurde in 115 Fällen die Nutzung von WhatsApp oder anderen Nach­richtendiensten gezeigt und geübt. 114 Helfende haben die Nutzung von Suchmaschine wie Google ver­mit­telt. Dabei ging es in 109 Fällen um die Information über Nachrichten/Aktuelles, aber nur in 50 Fällen um die Suche nach Gesundheitsinformationen (zum Beispiel nach Ärzten) und 48-mal um Gesundheits-Apps (medi­zinische Apps, E-Rezept).

An einem Kurs oder einer Übungsgruppe teilzunehmen oder eine Sprechstunde in Anspruch zu nehmen, bedeutet noch nicht, dass dadurch in jedem Fall eine dauerhafte Kompetenz erworben wird. Dies liegt nicht nur an unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten der Teilnehmenden, sondern auch an der erwähnten höheren Komplexität digitaler Gesundheitsanwendungen.

Auf die Frage, ob die Teilnehmenden anschließend in der Lage sind, selbständig ein Nutzerkonto zu erstellen, um digitale Online-Dienste (E-Mail, soziale Medien) zu nutzen, gaben von 127 Helfenden nur 35 an, dass alle Teilnehmenden dies können. 57 der Helfenden sagten, die Hälfte der Teilnehmenden könne dies und in 29 Fällen konnte dies nur weniger als die Hälfte.

Bei den Teilnehmenden selbst sagten 110 von 125, dass sie Kurznachrichten und Fotos mit WhatsApp, Signal oder Telegram verschicken können. Aber nur 63 können nach eigenen Angaben eine passende App finden und herunterladen. Eine für ihre Bedürfnisse passende Gesundheits-App können nur 24 von 125 ohne Probleme finden und nutzen, für ebenfalls 24 Teilnehmende ist das manchmal ein Problem und 26 - also rund 20 Prozent – können das nicht allein.

Insgesamt sagten nur 14 von 125 Teilnehmenden: „Ich habe gelernt, was ich wollte, und brauche keine weitere Unterstützung“. 71 stimmten der Aussage zu: „Was ich gelernt habe, kann ich anwenden“. Bei neuen Themen benötige ich weiterhin Unterstützung“ und 58 geben an „Ich brauche gelegentlich noch Hilfe z.B. durch eine persönliche oder telefonische Sprechstunde.“ Es geht also nicht nur um einige einmalige Schulung, sondern um eine auf Dauer angelegte Unterstützungsinfrastruktur.

Zum Status und Hintergrund der Unterstützungskräfte bestätigt die Umfrage die hohe Abhängigkeit der Angebote vom ehrenamtlichen Engagement. Von den 134 antwortenden Unterstützungskräften sind 112 Ehrenamtliche, überwiegend unbezahlt, neun Hauptamtliche und acht Sonstige (Praktikum etc), 96 sind in Rente oder Pension. 107 geben eigene persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse weiter. 26 haben Erfah­rungen in der Sozialarbeit mit älteren Menschen und 20 Erfahrungen im Bereich Gesundheit und Pflege. Das erklärt die eingangs erwähnte geringe Zahl der Bewerbungen zum Thema Gesundheit und Pflege.

Im Zuge der Evaluation wurde in Onlineworkshops nämlich auch deutlich, dass anders als bei der Einführung in Google und WhatsApp bei vielen digitalen Gesundheitsdiensten neben technischen Bedienkompetenzen auch ein inhaltliches Verständnis vermittelt werden muss, über das die meisten Ehrenamtlichen nicht verfügen und teilweise auch keine Verantwortung für Empfehlungen übernehmen möchten. Wenn aber die Ehrenamtlichen selbst keine Erfahrungen mit digitalen Gesundheitsdiensten haben oder diesen eventuell selbst kritisch gegenüberstehen, können die Erfahrungsorte nicht zu einer deutlich höheren Nutzung der digitalen Gesundheitsdienste beitragen.

Die Kommission für den Achten Altersbericht hat daher für die Angebote zur Förderung digitaler Kompeten­zen älterer Menschen eine stärkere Vernetzung, Professionalisierung und Diversifizierung empfohlen. Die dau­erhaft erforderliche Unterstützung bei digitalen Anwendungen in den Bereichen Gesundheit und Pflege wird am besten von den Fachkräften in diesen Bereichen erbracht. Ehrenamtliche in den Erfahrungsorten, die erste Basiskompetenzen vermitteln, sollten entsprechende weiterführende Angebote kennen und darauf verweisen. Dies erfordert eine Kooperation und Vernetzung unter den verschiedenen spezialisierten Unterstützungsan­geboten, aber auch Anpassungen der jeweiligen Rahmenbedingungen.

Ich halte es für erforderlich, dass die Unterstützung bei digitalen Gesundheits- und Pflege-Anwendungen (DiGA und DiPA) in die Leistungskataloge der Ambulanten Pflege aufgenommen werden. Zurzeit kann ein Pflegedienst mit den Kassen die Zeit für die Begleitung einer pflegebedürftigen Person zu einem Arzt ab­rechnen, aber nicht die deutlich kürzere Zeit für die Hilfe bei der Einwahl in eine Videosprechstunde. Bei Gesundheits-Apps und der elektronischen Patientenakte werden ältere Menschen am ehesten den Em­pfehlungen ihres Hausarztes vertrauen und folgen.

In der Arztpraxis muss dann jemand zeigen, wie man sich in eine Videosprechstunde einwählt, ein E-Rezept nutzt oder sich für die elektronische Patientenakte registriert und diese aktiviert. Die dafür benötigte Zeit muss gegebenenfalls mit einer eigenen Gebührenziffer abgerechnet werden können, wobei diese in Abhän­gigkeit von der geistigen Verfassung der Patientinnen und Patienten sehr unterschiedlich ausfallen kann. Das Personal muss dementsprechend nicht nur selbst in der Nutzung dieser Anwendungen geschult werden, sondern auch in der jeweils angemessenen Vermittlung, und muss die Zeit dafür bekommen.

Diese Notwendigkeit wird in der Digitalstrategie des BMG erwähnt. Zu einer Strategie gehört allerdings auch ein Umsetzungsplan, eine Roadmap, die der Dimension der Herausforderung gerecht wird: Es geht in um eine auf Dauer angelegte integrierte Assistenzinfrastruktur für rund 20 Millionen betroffene ältere Menschen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen. Daher sollte umgehend geklärt und erprobt werden, wie überlastete Arztpraxen dies auch praktisch bewältigen können.

ER

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