5 Fragen an...

„Unser Angebot, innerhalb von 30 Minuten einen Arzt zu sprechen, ist im Krankenhaus nicht möglich“

  • Dienstag, 7. Oktober 2025

Berlin – Mit einer Reform des Bereitschaftsdienstes ist die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen (KVN) in diesem Jahr einen neuen Schritt gegangen: Außerhalb der Praxisöffnungszeiten findet grundsätzlich eine telemedizinische Beratung per Video oder Telefon statt. Mit der strukturierten medizinischen Ersteinschätzung (SmED) wird eine Empfehlung für die Dringlichkeit der Behandlung festgestellt.

Sehr viele Anliegen können telefonisch geklärt werden, in nur 30 Prozent der Fälle wird ein Fahrdienst geschickt. Über den positiven Start, die hohe Nachfrage am Samstagnachmittag sowie Überlegungen, das Projekt als mögliche Blaupause für eine Bundesgesetzgebung zu sehen, berichtet KV-Vorsitzender Mark Barjenbruch im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt.

Mark Barjenbruch, Vorstandsvorsitzender der KV Niedersachsen /Nils Hendrik Müller
Mark Barjenbruch, Vorstandsvorsitzender der KV Niedersachsen /Nils Hendrik Müller

5 Fragen an Mark Barjenbruch, Vorsitzender der KV Niedersachsen

Anfang Juli ist die Reform des Bereitschaftsdiensts der KV Niedersachsen gestartet. Dabei wird im Erstkontakt vor allem auf die telemedizinische Erstbetreuung gesetzt. Wie lautet ihr Fazit nach den ersten Wochen?
Aus unserer Sicht läuft es sehr gut. Bei den Planungen hatten wir kalkuliert, dass wir von allen Anrufern 50 Prozent telemedizinisch abschließend versorgen können. Nun sind wir in Spitzenzeiten teilweise bei 80 Prozent. Im Durchschnitt sind wir bei mehr als zwei Drittel, die per Telefon oder Video erledigt werden können. Bei 30 Prozent der Fälle kommt dann ein Fahrdienst. Den haben wir ausgeschrieben und die Johanniter schicken einen Arzt oder eine Gesundheitsfachkraft, die auch telemedizinisch unterstützt werden kann.

Seit dem offiziellen Start hatten wir etwa 16.000 Fälle. Rechnet man den Zeitraum ab April, in dem wir im Hintergrund mit dem Projekt gestartet sind, zählen wir 28.779 Fälle. Im Schwerpunkt geht es um ärztliche Beratung, die Ausstellung eines E-Rezeptes oder im Bedarfsfall auch eine Krankschreibung. Das empfinden wir insgesamt als einen sehr großen Erfolg.

Man muss sich das im gesamten Setting ansehen: Die Patientin oder der Patient ruft bei der 116117 an. Dort findet das standardisierte Ersteinschätzungsverfahren statt. Wenn auf Basis dieser Einschätzung ein Arztgespräch nötig wird, soll innerhalb von 30 Minuten eine telemedizinische Beratung durch einen Arzt oder eine Ärztin erfolgen – per Video oder auch per Telefon. Derzeit liegt die Wartezeit für eine Kontaktaufnahme durch einen Arzt bei fünf bis zehn Minuten. In der Erkältungszeit erwarten wir, dass die Zeiten etwas ansteigen. Bei einer Zufriedenheitsabfrage unter den Patientinnen und Patienten haben wir vier von fünf Punkten bekommen.

Wenn es so gut läuft – welcher Bereich läuft denn nicht gut?
Wir haben anders kalkuliert beim Thema Leichenschauen. Originär ist dies keine vertragsärztliche Leistung, sondern leitete sich aus dem niedersächsischen Bestattungsgesetz ab. Allerdings ist es gelebte Praxis der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, dass Leichenschauen bei den eigenen Patienten durchgeführt werden. Dies bezieht sich auch auf den Bereitschaftsdienst. Diese Information ist heute noch nicht über die 116117 möglich. Da sind wir gerade dabei, das anderweitig zu organisieren, um den Rettungsdienst hier nicht zu belasten.

Die Organisation des Bereitschaftsdienstes ist in vielen Kassenärztlichen Vereinigungen immer ein Streitthema. Wieso sind Sie nun diesen – vielleicht in manchen Augen drastischen – Schritt gegangen?
Vor Jahren haben wir festgestellt, dass die Übernahme der Bereitschaftsdienste ein Hindernis für die Niederlassung war. Wenn eine hohe Frequenz von Pflichtdiensten, besonders den Fahrdiensten, in einer Region zu erwarten war, haben sich viele junge Ärztinnen und Ärzte genau überlegt, ob sie eine Praxis übernehmen oder nicht. Und viele Praxen haben aus den gleichen Gründen keine Angestellten gefunden. Es ist in Niedersachsen in städtischen und ländlichen Regionen etwas unterschiedlich, ob man einen Vertreter für Dienste findet oder die Dienste selbst erbringen muss. Und so kamen vor allem die inhabergeführten Praxen auf uns zu und wollten Lösungen für starke Belastungen. Das war einer der Gründe für den Beginn der Reform. Die Entwicklungen in der Coronazeit haben dann die nötigen technischen Weiterentwicklungen gebracht.

Wenn Sie die Historie so beschreiben: Wie schwierig ist es nun heute, Freiwillige für den Bereitschaftsdienst per Video außerhalb der Sprechzeiten sowie am Wochenende zu finden?
Wir organisieren die Telemedizin nicht selbst, sondern haben uns über eine Ausschreibung für einen Anbieter von telemedizinischen Plattformen entschieden – in diesem Fall die TeleClinic. Darüber wird kein 24-Stunden-Dienst angeboten, da die Versorgung in den Praxen stattfindet. Es ist ein Dienst für die Randzeiten und die Nacht. Mit unserem Dienstleister haben wir die Vereinbarung, dass in diesen Zeiten mindestens 90 Prozent der ärztlichen Leistungen durch Vertragsärztinnen und -ärzte aus Niedersachsen erbracht werden.

In der tiefen Nacht freuen wir uns, wenn sich irgendwo in Deutschland ärztliche Kolleginnen und Kollegen aus anderen Kassenärztlichen Vereinigungen aufschalten. Unter der Woche ist im Zeitraum von 19 bis 23 Uhr das Anrufaufkommen am höchsten.

Die absoluten Höchstwerte liegen immer am Samstag und am Sonntag. Am Samstag ist die Nachfrage in der Nachmittagszeit hoch, mit einer Pause: Wenn zwischen 18 und 20 Uhr die Sportschau läuft. Ab 20 Uhr geht es dann wieder los und der Sonntag ist auch extrem gefragt. Im Schnitt haben wir 24 Ärztinnen und Ärzte aus Niedersachsen in der Leitung. Es gab auch schon Spitzenzeiten, da waren es 54 Ärztinnen und Ärzte gleichzeitig, die Anrufe entgegengenommen haben.

Sie sind auch viel im Gespräch mit den anderen KV-Regionen, in denen neue Modelle diskutiert werden. Auch der Bundesgesetzgeber hat ähnliche Ideen im Blick, wenn es demnächst zu einer bundesweiten Notdienstreform kommt. Sehen Sie Ihr Angebot als Zukunftskonzept für die ambulante Notfallversorgung oder den Bereitschaftsdienst an?
Kritik gab es zu Beginn, als wir unsere Reform und die Idee, viele Fälle telemedizinische abschließend versorgen zu wollen, entwickelt haben. Inzwischen bekommen wir sehr gutes Feedback aus dem politischen und berufspolitischen Bereich. Viele sind interessiert, weil im Grunde die Bequemlichkeit für beide Seiten siegt.

Für uns wird es spannend, wenn unsere Idee in die bundesweite Notfallstruktur übernommen wird. Aus meiner Sicht ist es eine gute Blaupause, eine Ergänzung für den Notfall- und Bereitschaftsdienst. Man muss aber auch vor Ort die Wogen so gut es geht glätten: Hier in Niedersachsen haben wir im Vorfeld viele Gespräche beispielsweise mit dem Landkreistag oder dem Landesrettungsdienst, den regionalen Rettungsdiensten sowie den zuständigen Ministerien geführt.

Jeweils mit der Bitte um schnelle Rückmeldung, falls etwas im neuen System nicht funktioniert. Im berufspolitischen Bereich gibt es keine negativen Rückmeldungen, auch nicht aus den Krankenhäusern. Unser Angebot, innerhalb von 30 Minuten – oft ist es ja deutlich weniger – einen Arzt zu sprechen, ist ja auch im Krankenhaus nicht möglich. Das Wahlrecht des Patienten bleibt ja bestehen, ob er oder sie sich telemedizinisch helfen lassen oder im Anschluss doch noch ins Krankenhaus geht.

bee

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