„Wir haben eine gestiegene Versorgungsqualität bei sinkenden Kosten“
Kiel – Im Innovationsfondsprojekt „Making SDM a Reality“ wurde am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel, ein Konzept zum Shared Decision Making (SDM) entwickelt und im gesamten Krankenhaus ausgerollt.
Der Innovationsausschuss hat das Projekt in der Zeit vom Oktober 2017 bis zum September 2021 mit 13,6 Millionen Euro gefördert. Im Februar 2023 hat er es zur Überführung in die Regelversorgung empfohlen.
Im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt erklärt Studienleiter Friedemann Geiger, welchen Effekt das Projekt auf die Patientenversorgung im UKSH sowie auf die Kosten der Versorgung hatte und ob es mittlerweile in der Regelversorgung angekommen ist.

5 Fragen an Friedemann Geiger, Leiter des Nationalen Kompetenzzentrums SDM am UKSH, Campus Kiel
Herr Professor Geiger, worum ging es bei Ihrem Projekt „Making SDM a Reality“?
Mit Shared Decision Making finden Ärztinnen und Ärzte gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten die Therapie, die am besten zu ihnen und ihrem Lebenskontext passt. Diese strukturierte Gesprächsführung kann man durch unsere kompakten Trainings leicht erlernen.
Unterstützend lassen wir den Patienten dafür Online-Entscheidungshilfen zukommen, die die verschiedenen Therapieoptionen beschreiben. Durch die bessere Aufklärung steigt zum einen die Gesundheitskompetenz der Patienten und zum anderen auch deren Zufriedenheit mit der Behandlung.
Alle Faktoren zusammen führen dazu, dass Patienten eher bereit sind, eine Therapie wie besprochen umzusetzen. Zudem werden sie von der Kompetenz her eher in die Lage versetzt, auch therapietreu sein zu können.
Wie fällt Ihre Bilanz des Projekts aus?
In jeder Hinsicht positiv. Wir haben es geschafft, in einem ganzen Krankenhaus SDM zum Standard der medizinischen Entscheidungsfindung zu machen – trotz Pandemie. Das ist in dieser Form weltweit einmalig.
Dabei haben wir zu allen Endpunkten positive Ergebnisse erreicht: Die Patientenbeteiligung ist signifikant gestiegen, ebenso die Gesundheitskompetenz. In der Folge stieg im Vergleich zu den anderen Krankenhäusern der Republik die Versorgungsqualität – bei sinkenden Kosten: Für jeden Euro, der in Kiel in SDM investiert wurde, sparten die Krankenkassen sieben Euro ein.
Wie haben Sie den Anstieg der Versorgungsqualität gemessen?
Wir haben zu unseren Patienten eine Kontrollgruppe aus dem Datensatz der Techniker Krankenkasse mit sogenannten Zwillingen gebildet: mit Patientinnen und Patienten also, die mit unseren in Alter, Geschlecht, Diagnose und Schweregrad der Erkrankung vergleichbar sind, die aber in einem anderen Krankenhaus behandelt wurden.
Der Nachbeobachtungszeitraum betrug zwölf Monate. So können wir die Versorgung vor und nach Einführung von SDM in Kiel mit der Standardversorgung andernorts zu denselben Zeitpunkten vergleichen.
Bei den Patienten in Kiel traten mit SDM signifikant weniger Komplikationen auf, die zu Notfalleinweisungen geführt haben als in der Kontrollgruppe. Die gesunkenen Kosten für die Krankenkassen beruhen einerseits auf der geringeren Zahl an Notfalleinweisungen.
Bei uns wurden andererseits auch weniger Ressourcen verbraucht als in der Kontrollgruppe, zum Beispiel wurden weniger Bildgebungsverfahren durchgeführt. Und es waren weniger Hospitalisierungen notwendig. Auch, wenn die beiden letztgenannten Vorteile nicht signifikant waren, verbessern sie in der Summe aller Faktoren dennoch die Kosteneffizienz.
Übrigens decken sich unsere Ergebnisse mit denen von Kollegen aus den USA: von einer Arbeitsgruppe um David Veroff aus Boston. Wir haben deren Studiendesign und Analysemethodik 1:1 repliziert. Dort konnte zusätzlich noch gezeigt werden, dass Patienten und Ärzte sich mit SDM häufiger trauen, keinen Eingriff beziehungsweise die jeweils konservativere Option zu wählen: zum Beispiel Krankengymnastik statt Bandscheiben-OP – bei gleichen oder besseren Behandlungsergebnissen.
Auch eine solche Reduktion von Übertherapie senkt natürlich die Kosten. Zurzeit führen wir auch mit unseren Daten solche Analysen durch. Die bisher untersuchten Daten weisen ebenfalls auf eine Entwicklung zugunsten weniger intensiver und damit meist auch kostengünstigerer Eingriffe hin.
In welcher Weise sind die Erkenntnisse aus Ihrem Projekt bis jetzt Teil der Patientenversorgung in Deutschland geworden?
Bei uns am UKSH am Campus Kiel versorgen wir derzeit jährlich 130.000 Fälle mit SDM, Tendenz steigend. Unsere Kliniken bieten kontinuierlich SDM-Trainings für das ärztliche und pflegerische Personal an und lassen sich jährlich auditieren, um das Share-to-Care-Zertifikat zu erneuern. Damit können sie sowohl den Patientinnen und Patienten als auch den Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt signalisieren, dass Patientenzentrierung im UKSH großgeschrieben wird.
Außerhalb des UKSH wird das Kieler Modell derzeit in sechs bayerischen Unikliniken eingeführt sowie im Helios Klinikum Schleswig und im Malteser St. Franziskus-Hospital in Flensburg. Es folgen die Unikliniken in Hamburg und Aachen. Auch in Spanien, Dänemark und Norwegen wird die Methodik adaptiert. Ein wesentlicher Schritt fehlt jedoch noch, um SDM flächendeckend implementieren zu können.
In Kiel fördern Krankenkassen das Modell, indem sie ein Zusatzentgelt für jeden Patienten zahlen, der in einer Klinik mit Share-to-Care-Zertifikat behandelt wird. Das lohnt sich auch betriebswirtschaftlich, weil sie pro Patient mehr Geld einsparen, als sie investieren. Damit können wir weiterhin auch neue Kollegen trainieren sowie die Entscheidungshilfen updaten.
In Kiel ist SDM damit nachhaltig implementiert. Für den Rest des Landes ist die Finanzierung von SDM jedoch bis heute nicht gesichert, obwohl der Gemeinsame Bundesausschuss und auch die Bundesärztekammer und die Regierungskommission Krankenhaus eine Überführung in die Regelversorgung empfohlen haben.
Deshalb ist jetzt der Gesetzgeber gefragt. Er könnte das Kieler Modell mit einer Ergänzung des Krankenhausentgeltgesetzes auch allen anderen Häusern zugänglich machen. Die Krankenkassen wünschen sich genau das wegen der Vorteile von SDM.
Alternativ könnte das mit der Krankenhausreform vorgesehene Vorhaltebudget in allen Kliniken mit Share-to-Care-Zertifikat angehoben werden. Das hat die Regierungskommission vorgeschlagen. Beide Wege funktionieren. Es muss nur passieren. Ab dann wird sich SDM von ganz allein in Deutschland ausbreiten: Wir haben bereits 200 Krankenhäuser auf der Warteliste, die für eine Übernahme des Kieler Modells bereitstehen.
Wie groß ist aus Ihrer Sicht der Einfluss, den der Innovationsfonds auf die Verbesserung der Versorgungsqualität in Deutschland hat?
Das Potenzial ist sehr groß. Meine ausländischen Kolleginnen und Kollegen schauen sehnsüchtig auf Deutschland, wo es durch den Innovationsfonds möglich ist, neue Versorgungsmodelle auch im großen Maßstab zu erproben und wo ein Mechanismus für die Überführung in die Regelversorgung zumindest vorgezeichnet ist. Dadurch hat man eine empirisch fundierte Argumentationsbasis, die dann nicht mehr wegzudiskutieren ist. Aber unser Beispiel zeigt: Am Ende muss die Politik den Prozess noch vollenden.
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