Russland lässt Impfstoff gegen SARS-CoV-2 zu

Moskau – Russland hat als weltweit erstes Land einen Impfstoff zum Schutz vor COVID-19 zugelassen. Das gab Präsident Wladimir Putin heute bekannt. Das Vakzin sei effektiv gegen das Virus und bilde eine beständige Immunität, sagte er der russischen Nachrichtenagentur Interfax.
Die wichtige Phase-III-Prüfung an mehreren tausend Probanden sowie umfangreiche, öffentlich zugängliche Daten zu dem Impfstoff fehlen jedoch bislang. Vonseiten des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) finden derzeit keine Verhandlungen mit Russland zu dem Impfstoff statt, wie die Behörde dem Deutschen Ärzteblatt mitteilte.
Entwickelt hat den Impfstoff das staatliche Gamaleja-Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie in Moskau. Es handelt sich laut den wenigen veröffentlichten Daten um einen Vektorimpfstoff mit dem wissenschaftlichen Namen Gam-COVID-Vac Lyo.
In Anlehnung an Russlands ersten Satelliten im Weltraum im Jahr 1957 erhält die Impfung den Spitznamen „Sputnik V“, wie das russische Staatsfernsehen heute berichtete. Der Name soll wohl auch daran erinnern, dass die Russen den USA, wie damals bei der Raumfahrt, zuvor gekommen sind.
Impfstoff in Studien an 38 Personen getestet
Die Basis des Impfstoffs sind demnach inaktivierte, also für den Menschen zunächst ungefährliche, humane Adenoviren. Diese können, wie auch die Familie der Coronaviren, Atemwegserkrankungen verursachen und werden häufiger für die Impfstoffentwicklung eingesetzt.
Für Gam-COVID-Vac Lyo kamen Typ 5 und Typ 26 zum Einsatz. Diese bilden den Angaben zufolge das für das Coronavirus SARS-CoV-2 typische Spikeprotein aus. Die dafür charakteristischen Erbgutabschnitte soll der menschliche Körper erkennen und Antikörper bilden, die ihn im Ernstfall vor COVID-19 schützen können sollen.
Glaubt man den Daten der russischen Forscher, wurde dieser Effekt aber bislang in den ersten zwei Testphasen nur an 38 Personen getestet. Nebenwirkungen gab es dabei den Angaben zufolge keine, was bei Vektorimpfstoffen ungewöhnlich ist.
Dass vor der Zulassung keinerlei Ergebnisse großer klinischer Studien vorliegen, widerspricht dem internationalen Vorgehen. Erst in der vergangenen Woche hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Russland darauf hingewiesen und betont, dass jeder Impfstoff alle Versuchsreihen durchlaufen müsse, bevor er genehmigt und ausgeliefert werden könne.
Derzeit laufen nach Angaben der WHO Gespräche mit den russischen Gesundheitsbehörden über eine mögliche „strenge Überprüfung“ aller gesammelten Daten über den Wirkstoff.
Daten zu Unbedenklichkeit sind nicht bekannt
„Die Zulassung eines Impfstoffs in Europa setzt neben dem Nachweis der pharmazeutischen Qualität, hinreichende Erkenntnisse aus klinischen Prüfungen zum Beleg von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit voraus“, erklärte das BMG auf Anfrage.
Die Durchführung von Phase-III-Studien sei hierbei von besonderer Bedeutung. Daten zu Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des russischen Impfstoffs seien bisher nicht bekannt.
„Der russische Impfstoff hat nur die Phasen eins und zwei der klinischen Prüfung abgeschlossen. Damit sind die Russen eigentlich hinten dran, denn weltweit gibt es schon sechs Projekte, die diese ersten beiden Phasen seit längerem abgeschlossen haben“, sagte Peter Liese, gesundheitspolitischer Sprecher der größten Fraktion im Europäischen Parlament (EVP-Christdemokraten). Diese sechs Projekte würden nun in die notwendige dritte Phase gehen.
„Die Russen überspringen diese Phase einfach, das ist nach EU-Recht nicht zulässig und kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass viele Menschen Nebenwirkungen haben, aber keinerlei Wirkung“, so Liese.
Eine reguläre Zulassung ohne die umfangreichen Daten aus einer Phase-III-Prüfung erscheine riskant, erklärte auch Klaus Cichutek, Präsident des auf Bundesebene für Impfstoffe zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI). Erst hier könnten unter anderem mögliche seltene Nebenwirkungen detektiert werden.
Scharfe Kritik äußerte Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer. „Einen Impfstoff zuzulassen, der die entscheidende dritte Testreihe nicht durchlaufen hat, halte ich für ein hochriskantes Experiment“, sagte Reinhardt dem Deutschen Ärzteblatt. Es sei unverantwortlich, ganze Bevölkerungsgruppen bereits in diesem Stadium der Entwicklung mit dem Wirkstoff zu impfen.
Andrew Ullmann, FDP-Fraktionsmitglied und stellvertretender Vorsitzender des Unterausschusses für Globale Gesundheit, gab zu bedenken, dass die Zulassung des Impfstoffs ohne Veröffentlichung der Forschungsergebnisse nicht nur die Gesundheit von Patienten, sondern auch das Vertrauen in die Wirkung von Impfungen gefährden könne.
„Intransparenz und Nebenwirkungen sind der Nährboden von Impfgegnern und Verschwörungstheorien, die uns danach jahrelang begleiten werden“, so Ullmann in einer Mitteilung.
Philipinen wollen mit Russland kooperieren
Russland plant nach jetzigem Stand trotz der fehlenden Daten eine groß angelegte Markteinführung ab dem 1. Januar 2021, wie russische Agenturen unter Berufung auf das Arzneimittelregister des Gesundheitsministeriums berichteten. Russlands Gesundheitsminister Michael Muraschko erklärte, das Gamaleja-Institut und die Firma Winnopharm sollten das Medikament produzieren.
Erste Bevölkerungsgruppen, darunter Lehrer und Ärzte, sollen nach Behördenangaben schon im August oder September geimpft werden. Unabhängig davon soll die dritte Testphase mit etwa 2.000 Freiwilligen im Hintergrund weiterlaufen. Putin berichtete, dass sich auch eine seiner Töchter im Rahmen der Tests habe impfen lassen. Sie habe eine leicht erhöhte Temperatur entwickelt, „das war alles“, sagte er.
Erst gestern hatte der Philippinische Präsident Rodrigo Duterte sich öffentlich bereit erklärt, den Impfstoff testen zu wollen. Sein Büro gab heute bekannt, dass die stark von COVID-19 betroffenen Philippinen mit Russland bei Studien, Versorgung und Produktion des neuen Impfstoffes kooperieren werden.
Auch Israel bekundete Interesse. Gesundheitsminister Juli Edelstein sagte, es gebe bereits Beratungen mit Russland. „Wenn wir zu der Überzeugung gelangen, dass es sich um ein ernsthaftes Produkt handelt, werden wir auch versuchen, Verhandlungen aufzunehmen“, wird er von der Nachrichtenseite ynet zitiert.
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