Ausland

Schifa-Klinik: WHO bemängelt entsetzliche Zustände

  • Montag, 13. November 2023
Das Schifa-Krankenhaus (Bildmitte) aus der Luft (Foto vom 12. November) /picture alliance, dpa, Satellite image _2023 Maxar Technologies, AP
Das Schifa-Krankenhaus (Bildmitte) aus der Luft (Foto vom 12. November) /picture alliance, dpa, Satellite image _2023 Maxar Technologies, AP

Gaza – Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat erneut „entsetzliche Zustände“ im größten Krankenhaus im Gazastreifen beklagt. Streit gibt es nach wie vor um die Frage, inwieweit die Hamas Krankenhäuser und Zivi­lis­ten in Gaza als Schutzschilde missbraucht.

Es befänden sich mehr als 2.000 Menschen in der Schifa-Klinik, darunter vermutlich mehr als 600 Patienten und rund 1.500 Vertriebene, schrieb die WHO auf der Plattform X (früher Twitter) unter Berufung auf das pa­läs­tinensische Gesundheitsministerium, das der Hamas untersteht. Demnach könnten Patienten unter ande­rem keine Dialyse mehr erhalten. Frühgeborene seien zudem ohne Brutkästen in Operationssäle verlegt wor­den, einige sollen verstorben sein.

„Die andauernden Feuergefechte und Bombardements in der Gegend haben die ohnehin schon kritischen Be­dingungen noch verschärft“, schrieb WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus in einem eige­nen Beitrag auf X: „Tragischerweise ist die Zahl der Todesfälle unter den Patienten deutlich gestiegen.“

Die WHO habe Kontakt zum Gesundheitspersonal in der Klinik herstellen können. Das Krankenhaus funktio­niere nicht mehr als Krankenhaus. Es müsse eine sofortige Waffenruhe geben. Schon zuvor hatte die WHO die Lage in dem Klinikkomplex mit rund 700 Betten angeprangert. Wegen der Kämpfe in unmittelbarer Nähe und Treibstoffmangels sei eine medizinische Versorgung kaum noch möglich.

Dutzende Kinder seien in kritischem Zustand und könnten jeden Moment sterben, warnte die WHO. Der Leiter des Schifa-Krankenhauses dementierte Angaben Israels, denen zufolge seine Klinik eine Versorgung mit Treib­stoff unter Druck der im Gazastreifen herrschenden Hamas zurückgewiesen haben soll. Die Terrororga­nisa­tion kontrolliert auch das Gesundheits­ministerium. Sie sagte auch, im Norden des Gazastreifens sei kein Kran­kenhaus mehr arbeitsfähig.

Im britischen Sender BBC bestritt ein leitender Arzt der Klinik auch die Darstellung der israelischen Seite, dass sich Hamas-Kämpfer in dem Krankenhaus aufhielten. Das sei „eine große Lüge“, sagte der Chefchirurg Marwan Abu Saada. „Wir haben medizinisches Personal, wir haben Patienten und Vertriebene. Nichts anderes.“

Das israelische Militär hatte zuvor davon gesprochen, dass die Hamas – die ein weit verzweigtes Tunnelnetz­werk unter dem Küstengebiet für ihre Zwecke nutzt – unter der Klinik eine Kommandozentrale habe und auch andere medizinische Einrichtungen im Gazastreifen für militärische Zwecke missbrauche. Die Angaben beider Seiten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Die Europäische Union (EU) appelliert in einer Erklärung des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell im Namen der EU an die Hamas, Zivilisten zu erlauben, das Kampfgebiet zu verlassen. Die Kämpfe hätten schwerwie­gen­de Auswirkungen auf die Krankenhäuser und forderten „einen schrecklichen Tribut von Zivilisten und medizi­nischem Personal“.

„Die EU verurteilt den Einsatz von Krankenhäusern und von Zivilisten als menschliche Schutzschilde durch die Hamas“, hieß es in der Erklärung weiter. Das humanitäre Völkerrecht sehe vor, dass Krankenhäuser, die medizi­ni­sche Versorgung und die Zivilisten in den Krankenhäusern geschützt werden müssten. Die Einrichtungen müssten sofort mit dem nötigsten medizinischen Material versorgt und Patienten, die dringend medizinische Versorgung benötigten, müssten sicher evakuiert werden.

„In diesem Zusammenhang fordern wir Israel dringend auf, größtmögliche Zurückhaltung zu üben, um den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten“, heißt es weiter. Zugleich betonte die EU das Recht Israels, sich im Einklang mit dem Völkerrecht zu verteidigen. Die EU bekräftigte auch die Forderung an die Hamas, alle ihre Geiseln unverzüglich und bedingungslos freizulassen. Die EU und die USA haben die Hamas als Terroror­gani­sation eingestuft.

Die EU sei zutiefst besorgt über die sich verschärfende humanitäre Krise im Gazastreifen. Sie schloss sich da­her den Rufen nach sofortigen Kampf­pausen und der Einrichtung humanitärer Korridore an. „Die EU fordert einen kontinuierlichen, raschen, sicheren und ungehinderten Zugang humanitärer Hilfe, um die Bedürftigen mittels aller erforderlichen Maßnahmen, einschließlich humanitärer Korridore und Pausen für humanitäre Bedürfnisse, zu erreichen“, hieß es.

Der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses sagte, die USA hätten Israel aufgefordert, Kämpfe in der Nähe von Krankenhäusern im Gazastreifen zu vermeiden. „Die Vereinigten Staaten wollen keine Gefechte in Krankenhäusern, in denen unschuldige Menschen und Patienten, die medizinische Versorgung erhalten, zwi­schen die Fronten geraten“, sagte Jake Sullivan dem Sender CBS.

Eine lange oder gar dauerhafte Kampfpause wäre aus Sicht von Bundes­kanzler Olaf Scholz indes kontrapro­duktiv. Zwar könnten humanitäre Pausen einen Sinn machen, um etwa Verwundete aus dem Gazastreifen he­rauszuholen, sagte der SPD-Politiker bei einer Veranstaltung der Heilbronner Stimme.

„Aber ich gebe gerne zu, dass ich die Forderung, die einige aufstellen, nach einem sofortigen Waffenstillstand oder einer langen Pause – was ja quasi das Gleiche ist – nicht richtig finde.“ Das bedeute letztendlich, „dass Israel die Hamas sich erholen lassen soll und wieder neue Raketen anschaffen lassen soll. Damit die dann wie­der schießen können. Das wird man nicht akzeptieren können.“

Außenminister treffen sich in Brüssel

Die Außenminister der 27 EU-Staaten beraten heute in Brüssel über die Lage im Nahen Osten und in der Ukraine. Mit Blick auf den Gaza-Krieg geht es unter anderem um die Frage, wie die EU dazu beitragen kann, die katastrophale humanitäre Situation im Gazastreifen zu verbessern.

Der scheidende luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hat eine klare Sprache der EU gegenüber Israel gefordert. Es stimme zwar, dass die Hamas Krankenhäuser als Schutzschilde nutze, sagte er heute. Man müsse aber dennoch auch den Mut haben, den Freunden in Israel zu sagen, dass man Hilfsorganisationen wie den Ärzten ohne Grenzen und dem Chef der Weltgesundheitsorganisation zuhören müsse.

„Hier sind Babys, die ersticken, weil kein Sauerstoff mehr da ist. Es sind Menschen, die in der Intensivstation liegen und keine Chance haben“, sagte er mit Blick auf Berichte über dramatische Zustände in Krankenhäusern im Gazastreifen. Das unendliche Leid, das in Israel geschehen sei, dürfe sich nicht in Gaza wiederholen. Kran­kenhäuser dürften kein Schlachtfeld sein, mahnte er.

„Die Geschichte wird uns das nicht verzeihen“, warnte Asselborn (74), der in Kürze aus dem Amt scheiden wird, weil seine sozialdemokratische Partei LSAP nach den jüngsten Wahlen in Luxemburg nicht mehr an der Regie­rung beteiligt sein wird.

Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock zeigte sich äußerst pessimistisch zum Gaza-Krieg und den Aussichten für die Zukunft. „Die Lage in der Region ist zum Zerreißen. Die Gräben scheinen tiefer zu werden“, sagte die Grünen-Politikerin am Rande des EU-Außenministertreffens in Brüssel. Man spüre an allen Orten, wie groß die Verzweiflung sei. Sowohl im Gazastreifen und im Westjordanland als auch in Israel litten die Menschen. „Die bittere Realität ist, dass wir nur in kleinsten Schritten vorankommen.“

Baerbock: „Ich verstehe total den Impuls in dieser furchtbaren Situation, wo unschuldige Kinder, Menschen, Frauen, Mütter, Familien nicht nur so furchtbar leiden, sondern ums Leben kommen“. Aber Impulse reichten eben nicht aus, um Menschen zu helfen. Diejenigen, die solche Dinge forderten, müssten auch Fragen beant­worten. So zum Beispiel die Frage, wie Israels Sicherheit gewährleistet werden könne und was mit den Geiseln der Hamas passiere.

Als aus ihrer Sicht aktuell einzig mögliche Option nannte Baerbock Feuerpausen, um humanitäre Hilfe für notleidende Zivilisten zu ermöglichen. „Es braucht Pausen, wo die Kinder, die apathisch in den Trümmern ihrer Häuser sitzen in Gaza, weil ihre Eltern unter dem Schutt verschüttet sind, wirklich auch erreicht werden könn­en.“

Diese Politik der zum Teil kleinsten Schritte sei die einzige Möglichkeit, dieses Leiden in der Situation einzu­dämmen und dann in den nächsten Schritten dazu zu kommen, dass Israelis und Palästinenser künftig wirklich in Frieden und Sicherheit leben könnten, sagte Baerbock.

Bei ihrer jüngsten Reise in die Region war Baerbock am vergangenen Freitag und Samstag in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, im Westjordanland und in Israel gewesen. Neben der humanitären Situa­tion der Zivilisten im Gazastreifen ging es auch um die Lage der Geiseln in den Händen der Hamas und die Suche nach einer Friedenslösung.

Hunderte Kämpfer der von den USA und der EU als Terrororganisation eingestuften Hamas waren am 7. Okto­ber nach Israel eingedrungen und hatten Gräueltaten überwiegend an Zivilisten verübt, darunter zahlreiche Kinder. Israelischen Angaben zufolge wurden etwa 1.200 Menschen in Israel getötet und rund 240 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.

Seit dem Überfall greift das israelische Militär massiv Ziele im Gaza­streifen an, inzwischen sind auch Boden­truppen in das Palästinensergebiet eingedrungen. Nach Angaben der Hamas, die sich nicht unabhängig über­prüfen lassen, wurden bisher rund 11.180 Menschen getötet. Etwa die Hälfte der 2,4 Millionen Bewohner ist innerhalb des schmalen Küstengebiets auf der Flucht.

dpa/afp/may

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