Hochschulmedizin: Zentrale Rolle über Pandemie hinaus

Berlin – Die Universitätsmedizin, die eine grundlegende Bedeutung für das Gesundheitswesen in Deutschland hat, stößt in diesem Herbst und Winter wieder an ihre Grenzen.
Die aktuellen Herausforderungen der Pandemie seien Anlass, erneut auf die Themen der Universitätsmedizin aufmerksam zu machen, betonte Jens Scholz, 1. Vorsitzender des Verbands der Universitätsklinika Deutschlands (VUD), zur Eröffnung des Tags der Hochschulmedizin, der heute aufgrund der Infektionslage digital stattfand und live aus dem Langenbeck-Virchow-Haus in Berlin übertragen wurde.
Im Zuge der Koalitionsverhandlungen hatten die Universitätsklinika auf ihre schwierige wirtschaftliche Lage und die notwendige Neuausrichtung der Krankenhausversorgung und -finanzierung hingewiesen. Doch während es im internationalen Vergleich üblich sei, die besondere Rolle der Universitätsmedizin gesondert finanziell abzusichern, geschehe dies in Deutschland bisher nicht. Das müsse sich ändern, forderte der VUD.
Offensichtlich sei man gehört worden, sagte Scholz mit Verweis auf den gestern von SPD, Grünen und FDP vorgelegten Koalitionsvertrag. „Dort wird jetzt zumindest die Universitätsmedizin erwähnt. Das ist ein Fortschritt“, sagte er. Die künftige Ampelkoalition würdige die Universitäten als Rückgrat des Wissenschaftssystems.
Die Zukunft der Krankenhausversorgung sieht die Hochschulmedizin in regionalen Netzwerken mit gestufter stationärer Versorgung, in deren Zentrum ein Universitätsklinikum steht. Hierauf aufbauend sollte dann auch das DRG-System angepasst und zukünftig nach Versorgungsstufen differenziert werden, betont der VUD.
Zur Eröffnung des Tages der Hochschulmedizin wies Scholz auf die aktuelle angespannte Situation in den Universitätskliniken hin. Man habe bei der Vorbereitung dieses neuen Veranstaltungsformats der Hochschulmedizin gehofft, erleichtert auf die Pandemiesituation an den Häusern zurückschauen zu können.
„Jetzt füllen sich die Intensivstationen unserer Häuser aber erneut. Pflegende, Ärztinnen und Ärzte arbeiten auch diesen Herbst und Winter wieder bis an ihr Limit“, sagte Scholz. „Auf den Intensivstationen der Unikliniken liegen vor allem ungeimpfte Patientinnen und Patienten“, so der VUD-Vorsitzende.
Die Deutsche Hochschulmedizin mache sich deshalb für bundeweite und umfassende 2G-Regelungen im öffentlichen Leben stark und bitte alle, die sich jetzt noch nicht entscheiden konnten, sich jetzt impfen zu lassen. 75 Prozent der an der Veranstaltung Teilnehmenden stimmten heute während einer Live-Umfrage für eine allgemeine Impfpflicht.
Scholz verdeutlichte den Ernst der Situation: Die gestrige Aktivierung des Kleeblatt-Mechanismus, mit dem Patientinnen und Patienten zwischen Bundesländern verlegt werden, zeige, dass jetzt auch die Universitätsklinika an ihre Belastungsgrenzen kämen, erläuterte er. In einigen Regionen sei die Beteiligung der nicht universitären Krankenhäuser an der COVID-19-Versorgung nicht hinreichend gegeben. „Damit auch diese Häuser sich an der COVID-19-Versorgung beteiligen können, sollten die Freihaltepauschalen wiedereingeführt werden“, forderte der VUD-Vorsitzende.
Kurzfristig müssen aus Sicht der Hochschulmedizin jetzt die elektiven Eingriffe eingeschränkt werden, damit mehr Krankenhäuser ihren Anteil an der COVID-19-Versorgung leisten könnten. Andernfalls sei eine Überlastung der Universitätsklinika zu befürchten. Spezialisierte Behandlungen, etwa in der Transplantationsmedizin, Neuro- und Herzchirurgie oder der Hämatoonkologie, müssten in der Hochschulmedizin weiter durchführbar bleiben. „Ein Universitätsklinikum kann seine Intensivbetten nicht zu 100 Prozent mit COVID-19-Patienten füllen“, so Scholz.
Der Erste Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg, Peter Tschentscher, dankte den Angehörigen der Hochschulmedizin für ihren großen Einsatz in der Coronapandemie. Diese habe gezeigt, wie exzellent die Universitätsmedizin in Deutschland ist, die auch unter extremen Anforderungen eine ausgezeichnete Versorgung sicherstellt. „Der große Einsatz von Ärztinnen und Ärzten, des Pflegepersonals und der weiteren Beschäftigten verdient höchste Anerkennung“, so Tschentscher.
Darüber hinaus führe die Universitätsmedizin die verschiedenen medizinischen Forschungsfelder zusammen und ermögliche den unmittelbaren Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Anwendung. Universitätskliniken seien Impulsgeber der medizinischen Forschung und Pioniere der Anwendung neuer diagnostischer und therapeutischer Verfahren. Das Zusammenwirken der Fachgebiete und der universelle Blick seien nicht zu unterschätzen, um die relevanten Fragen zu klären und die optimale Therapie zu finden. „Gerade in der Pandemie hat die Universitätsmedizin ihre Leistungsfähigkeit bewiesen“, betonte Tschentscher.
Dass die Unimedizin durch die direkte Verbindung von Forschung und Versorgung viele Ideen für eine innovative Versorgung in Netzwerken umsetzen kann, wurde auf dem Tag der Hochschulmedizin nochmals sehr deutlich. „Die Hochschulmedizin hat die neuen Herausforderungen der Pandemie angenommen und an Lösungen arbeitet“, erläuterte Matthias Frosch, Präsident des Medizinischen Fakultätentages (MFT). „So haben wir mit dem Netzwerk Universitätsmedizin, NUM, ein in Deutschland bisher einmaliges Netzwerk geschaffen, mit dem Versorgungs- und Forschungsergebnisse zu COVID-19 erarbeitet und in das Versorgungssystem gebracht werden“, betonte der MFT-Präsident.
Gegründet wurde das „Netzwerk Universitätsmedizin“ (NUM), das bis 2024 vom Bundesforschungsministerium (BMBF) mit 80 Millionen Euro jährlich gefördert wird, bereits im April 2020. In kurzer Zeit konzipierte es 13 Verbundprojekte zur COVID-19-Forschung und schaffte mit dem Netzwerk eine Plattform, auf der die Standorte der deutschen Hochschulmedizin ihre Aktivitäten zu COVID-19 abstimmen und gemeinsam forschen.
„Die große Mühe hat sich gelohnt“, sagte Veronika von Messling, Ministerialdirektorin im BMBF. Das Netzwerk helfe nicht nur, COVID-19-Patienten optimal zu versorgen und Long COVID besser zu verstehen, sondern wirke auch über die Pandemie hinaus. „Mit dem NUM wurde ein großer struktureller Mehrwert erschlossen“, sagte sie.
Einige der Projekte wurden heute vorgestellt. Dabei zeigte sich: Die enge Verbindung von Patientenversorgung, Pandemie- und Krisenmanagement sowie Forschung sorgt in der aktuellen Pandemiesituation für eine schnelle Translation. Generelles Ziel des NUM ist es schließlich, Maßnahmenpläne, Diagnostik- und Behandlungsstrategien möglichst aller deutschen Universitätskliniken zusammenzuführen und auszuwerten, um COVID-19-Erkrankte optimal versorgen zu können.
„Erstmals arbeiten alle Universitätskliniken in Deutschland zusammen. Das wäre noch vor Jahren undenkbar gewesen, funktioniert aber erstaunlich gut“, betonte Heyo K. Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charite – Universitätsmedizin Berlin und Vorstandsmitglied des VUD. „Das NUM hat der interdisziplinären Kooperation einen großen Schub verliehen.“
Ein starker Akzent der Aktivitäten des Netzwerks liegt dabei auf der kliniknahen Forschung und der Versorgungsforschung, deren Ergebnisse möglichst schnell in das Versorgungsgeschehen beziehungsweise Krisenmanagement einfließen sollen. Dass dieses Netzwerk auch nach der Pandemie bestehen bleiben und dabei helfen wird, weitere medizinische Herausforderungen bewältigen zu können, ist MFT-Präsident Frosch angesichts des mittlerweile systematischen und flächendeckenden Austauschs zwischen den Kooperationspartnern und des gegenseitigen Lernens überzeugt.
Die Initiative eröffne die Chance, die Kräfte der Universitätsmedizin und weiterer Akteure der biomedizinischen Forschung in bisher nie dagewesener Weise zur Bekämpfung von Krisen zu bündeln.
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