Medizin

COVID-19: Journals ziehen umstrittene „Surgis­­phere“-Studien zurück

  • Freitag, 5. Juni 2020
/sharaku1216, stock.adobe.com
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Boston und London – Zwei Tage nachdem der Lancet und das New England Journal of Medicine, 2 international führende medizinische Fachzeitschriften, die Überprüfung von 2 „Big-Data“-Studien angekündigt hatten, wurden die beiden Publikationen jetzt zurück­gezogen.

Die Firma „Surgisphere“ hatte die Zweifel an der Datenerhebung nicht ausräumen können (oder wollen). Mitautoren begaben sich auf Distanz zu dem Unternehmen, das angeblich über Daten zu 240 Millionen Patienten verfügt, darunter rund 96.000 COVID-19-Patienten.

Bei der Firma „Surgisphere“ handelt es sich offenbar um mehr oder weniger ein Einmannunternehmen von Sapan Desai, der zuvor als Gefäßchirurg an einer Klinik in Chicago gearbeitet hatte. Das Büro befindet sich in der 31. Etage eines Wolkenkratzers der drittgrößten Stadt der USA.

Dass es der 2008 gegründeten Firma gelungen ist, die Daten von Abermillionen von Patienten zu sammeln, wird von Experten durchaus für möglich gehalten. Nicht nur in den USA gehen Kliniken recht freizügig mit elektronischen Krankenakten um, die nach einer Anonymisierung Forschern zur Verfügung gestellt werden. Dies garantiert aller­dings nicht, dass die Analysen sorgfältig durchgeführt werden.

Schon bald nach der Publikation, die am 22. Mai im Lancet erschienen war, hatten 146 Forscher Bedenken geäußert. Die Studie war nach der Analyse von 96.032 COVID-19-Patienten, die an 671 Kliniken behandelt wurden, zu dem Ergebnis gekommen, dass der Einsatz von Chloroquin/Hydroxychloroquin bei COVID-19 nicht nur nutzlos ist. Es soll zudem zu einer erhöhten Zahl von kardialen Arrhythmien und Todesfällen gekommen sein.

Ende letzter Woche haben dann 146 Forscher ihre Bedenken an der Lancet-Studie geäußert. James Watson von der Mahidol Oxford Tropical Medicine Research Unit in Thailand und Kollegen waren bei der Lektüre der Studie auf zahlreiche Unklarheiten gestoßen. Sie fragten sich, wie es „Surgisphere“ in so kurzer Zeit möglich gewesen sei, die Daten von so vielen Patienten aus allen Teilen der Welt zusammenzutragen.

Die meisten Daten stammten zwar aus Nordamerika, wo es relativ leicht möglich ist, größere Datenmengen auszutauschen. In die Analyse wurden aber auch Daten aus Afrika einbezogen, wo es nach der Vermutung der Kritiker erst wenige Kliniken gibt, die detaillierte elektronische Gesundheitsakten führen. Zu den Ungereimtheiten gehörte auch, dass aus Australien mehr Daten einflossen, als es zu dem Zeitpunkt dort Patienten gegeben haben soll.

Sollte Desai, zu dessen Mitarbeitern laut Presseberichten eine Science-Fiction-Autorin gehört, die Fantasie zuhilfe gezogen haben, um seine Ergebnisse in ein besseres Licht zu rücken?

„Surgisphere“ hat diese Vorwürfe entschieden zurückgewiesen. Doch der Aufforderung zu einer unabhängigen Prüfung der Daten war die Firma nicht nachgekommen. Seine 3 Mitautoren, darunter Frank Ruschitzka vom Universitäts-Spital Zürich, haben deshalb die Studie zurückgezogen, da sie, wie sie dem Lancet mitteilten, „nicht mehr für die Richtigkeit der primären Datenquellen bürgen können“.

Dies beweist nicht, dass Daten fabriziert wurden. Es zeigt jedoch, dass in der COVID-19-Pandemie Studien in höchster Eile erstellt werden. Viele Studien erscheinen vor der üblichen Peer-Review-Prüfung als „preprint“ auf Internetservern.

Ein wesentliches Problem bei „Big-Data“-Studien ist dabei, dass es sich um retrospektive Auswertung von Krankenakten handelt, die extrem anfällig für Verzerrungen sind. Ihre Evidenz wird deshalb als gering eingestuft und ihre Ergebnisse sollten kein Grund sein, randomisierte Therapiestudien abzubrechen.

Genau dies war allerdings nach der Publikation der Lancet-Studie geschehen. Die Weltgesundheitsorganisation hatte eine Studie mit mehr als 3.500 Patienten in 35 Ländern nach der Publikation im Lancet vorläufig gestoppt, mittlerweile aber wieder aufgenommen. Studienunterbrechungen hatte es auch in Australien und in Deutschland gegeben.

Auch die im New England Journal of Medicine publizierte Studie wurde zurückgezogen. Mandreep Mehra vom Brigham and Women’s Hospital in Boston und Mitarbeiter waren dort zu dem Schluss gekommen, dass die Einnahme von ACE-Hemmern und Statinen das Sterberisiko von Patienten mit COVID-19 nicht erhöht, wie dies zuvor Experten aufgrund der Verbindungen zum ACE2-Rezeptor vermutet hatten, über den das SARS-CoV-2 in die Zellen gelangt.

Das New England Journal of Medicine begründet die Rücknahme damit, dass „nicht allen Autoren Zugriff auf die Rohdaten gewährt wurde und die Rohdaten nicht einem externen Prüfer zur Verfügung gestellt werden konnten.“ Auch in diesem Fall bedeutet die Rücknahme nicht, dass eine Datenmanipulation erwiesen ist. Der Verdacht steht allerdings im Raum und es dürfte noch einige Zeit dauern, ihn zu überprüfen.

rme

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