Medizin

Reizdarmsyndrom: Wahrgenommene Gluten- und Weizenunverträglichkeit oft durch Erwartung bedingt

  • Mittwoch, 23. Juli 2025
/Andrey Popov, stock.adobe.com
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Hamilton – Viele Menschen mit Reizdarmsyndrom (IBS), die glauben, empfindlich für Gluten oder Weizen zu sein, reagieren möglicherweise gar nicht auf diese Inhaltsstoffe. Das zeigt eine randomisierte, doppelblinde, scheinkontrollierte Crossover-Studie mit 28 Personen in Kanada mit klinisch diagnostiziertem IBS (The Lancet Gastroenetrology and Hepatology 2025; DOI: 10.1016/S2468-1253(25)00090-1).

Alle Teilnehmenden waren überzeugt, sich mit einer glutenfreien Ernährung besser zu fühlen. Sie erhielten im Rahmen der Studie in zufälliger Reihenfolge Müsliriegel, die entweder Gluten, Vollkorn oder keines von beidem enthielten. Anschließend berichteten die Teilnehmenden über ihre Symptome und es wurden Stuhlproben analysiert, um die Glutenaufnahme objektiv zu messen.

Die Forschenden stellten fest, dass die Anzahl der Personen, bei denen die berichteten Symptome schlimmer wurden, in allen 3 Gruppen ähnlich war.

Es gab keine statistisch signifikanten Unterschiede beim Anteil der Teilnehmenden mit einer Verschlechterung von mindestens 50 Punkten auf dem IBS Symptom Severity Score (IBS-SSS): nach Weizen gaben 11 (39 %) von 28 Teilnehmenden einen IBS-SSS >=50 an (Risikodifferenz versus Scheinbehandlung 0,11; 95-%-Konfidenzintervall [-0,16; 0,35]), nach Gluten 10 (36 %), 0,07 [-0,19; 0,32] gegenüber einer Scheinbehandlung (n=8).

Unerwünschte Ereignisse wurden bei 26 (93 %) von 28 Patientinnen und Patienten nach Weizen, 26 (93 %) nach Gluten und 26 (93 %) nach Scheinbehandlung berichtet. Am häufigsten traten Blähungen, Veränderungen der Stuhlgewohnheiten, Bauchschmerzen und Müdigkeit auf.

Seltener berichteten die Teilnehmenden über Übelkeit, Schwindel und Juckreiz. Dies lässt darauf schließen, dass in vielen Fällen eher Erwartungen und Überzeugungen als die Zutaten selbst für die Symptome verantwortlich sind.

„Manche reagieren tatsächlich empfindlich auf dieses Nahrungsmittelprotein“, sagte der leitende Autor der Studie, Premysl Bercik, Professor an der medizinischen Fakultät der McMaster University. Bei vielen sei es aber die Überzeugung selbst, was die Symptome verursache, vermutet Bercik.

Forschende raten zu psychologischer Unterstützung

Als den Teilnehmenden später mitgeteilt wurde, welche Riegel Magen-Darm-Beschwerden verursacht hatten, änderten die meisten weder ihre Ansichten noch ihre Ernährung.

Bercik zufolge deuten die Ergebnisse darauf hin, dass einige Patientinnen und Patienten mit Reizdarmsyndrom neben der Ernährungsberatung auch von psychologischer Unterstützung profitieren könnten, um Gluten und Weizen zu entstigmatisieren.

Die Ursachen für die vermeintliche Unverträglichkeit erklären sich die Forschenden mit dem psychologischen Phänomen des Nocebo-Effekts. Dabei lösen allein negative Erwartungen echte Symptome aus. Bercik sagte, dass die starke Rolle sozialer Medien und Onlinecommunitys auch die Vorstellung befeuern könne, das Gluten schädlich sei.

„Die Fortsetzung der glutenfreien Diät könnte für die Patientinnen und Patienten eine wirksame Methode zur Kontrolle ihrer Symptome darstellen, auch wenn dies mit unnötigen Diätbeschränkungen verbunden wäre.“  

Stuhltest: Nicht alle haben Diät eingehalten

Obwohl die meisten Teilnehmenden angaben, die Müsliriegel gegessen zu haben, zeigten Labortests, dass viele dies nicht taten. Laut der Studie hielt sich nur etwa ein Drittel vollständig an die Diätvorgaben, was die Ergebnisse verzerrt haben könnte.

Dazu kam, dass trotz einer vermeintlich guten Adhärenz einer glutenfreien Diät durch Ernährungsberatende, 68 % der Teilnehmenden bereits vor der Studie überdurchschnittliche GIP-Konzentrationen (Gluten Immunogene Peptide) aufwiesen. Als Ursache vermuten die Forschenden falsch gekennzeichnete glutenfreie Lebensmittel oder das Nichteinhalten der glutenfreien Diät.

Die Compliance unterscheide sich nicht von anderen Studien in diesem Bereich, erläuterte Letztautor Bercik auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblatts. Man habe lediglich im Gegensatz zu vielen anderen Studien eine zusätzliche objektive Methode zur Bewertung der Compliance verwendet, indem sein Team unverdautes Gluten im Stuhl gemessen habe.

In der Regel stützen sich die Studien auf Bewertungen von Ernährungsberatenden (Interviews mit den Teilnehmenden) und die Angaben der Patientinnen und Patienten.

„Wir sollten jedoch bedenken, dass der Test den Glutenkonsum während der letzten 1-3 Tage der Provokation gemessen hat und nicht während des gesamten Provokationszeitraums“, merkte Bercik an. Analysiere man nur die Daten derjenigen, die sich an das Studienprotokoll gehalten haben, würden dennoch ähnliche Ergebnisse erzielt, betonte er.

Potenzielle Auslöser für das Reizdarmsyndrom

Bei der IBS liegen vermutlich Störungen der Darm-Hirn-Achse und der zerebralen Reizverarbeitung vor mit heterogener Pathophysiologie. Die Ernährung scheint dabei eine Schlüsselrolle bei der Symptomentstehung zu spielen.

Zwar konnte Gluten eindeutig als Auslöser der Zöliakie identifiziert werden. Als Auslöser für das Reizdarmsyndrom vermuten Fachleute aber auch andere Weizenbestandteile, etwa Amylase-Trypsin-Inhibitoren (ATIs), die zweithäufigsten Proteine im Weizen.

Sie könnten synergistisch mit Gluten wirken und so die Symptome bei IBS verstärken (Nutrients 2015; DOI: 10.3390/nu7064966; Gastroenterology 2017 und 2019; DOI: 10.1053/j.gastro.2016.12.006; DOI: 10.1053/j.gastro.2019.02.028).

Die bisherige Evidenz reicht nicht aus, um eine glutenfreie Ernährung bei IBS zu empfehlen. Zwar zeigte bereits 2018 eine Metaanalyse, dass eine glutenfreie Ernährung mit einer Reduktion der Symptome bei IBS einherging (relatives Risiko 0,42; 95-%-KI [0,11; 1,55, I²=88 %).

Das Ergebnis war jedoch nicht statistisch signifikant und die Heterogenität der ausgewerteten Studien zu groß (Am J Gastroenterol 2018; DOI: 10.1038/s41395-018-0195-4). Es gibt erhebliche Lücken in der Forschung, insbesondere in Bezug auf gereinigtes Gluten, immunogene Weizenbestandteile und objektive Marker für Diätadhärenz.

gie

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