SARS-CoV-2: Heinsberg-Studie deutet auf weite Verbreitung des Virus in der deutschen Bevölkerung hin

Bonn − In der Gemeinde Gangelt im nordrhein-westfälischen Landkreis Heinsberg haben sich nach einer Karnevalsfeier vermutlich 15,5 % der Bevölkerung mit dem neuen Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert. Die Zahl liegt laut einer (zur Publikation vorbereiteten) Studie der Universität Bonn 5-fach über den gemeldeten Zahlen. 1/5 der Infizierten hat keine Symptome bemerkt. Einer von 300 Infizierten ist nach der Infektion an COVID-19 gestorben. Nach einer allerdings vagen Hochrechnung könnte es in Deutschland bereits 1,8 Millionen Infizierte geben.
Ein Team um Hendrik Streeck von der Universität Bonn hatte die Ergebnisse bereits am 13. April auf einer Pressekonferenz vorgestellt, was damals zu Irritationen geführt hatte. Dem Virologen wurde die voreilige Publikation der nicht abschließend ausgewerteten Zahlen vorgeworfen. Die jetzige Publikation (die allerdings noch nicht in einer Fachzeitschrift mit Peer-Review-Verfahren veröffentlicht wurde) bestätigt jedoch die vor 3 Wochen vorgestellten Zahlen. Die Zahl der Infizierten könnte sogar noch etwas höher sein.
In Gangelt war es nach einer Karnevalsveranstaltung („Kappensitzung“) am 15. Februar zu einem starken Anstieg der Erkrankungen gekommen, der trotz eines Shutdowns seit dem 28. Februar über den gesamten März anhielt. Der Höhepunkt wurde um den 13. März erreicht, als in der Gemeinde mit 12.597 Einwohnern innerhalb von vier Tagen 85 durch Virusgennachweis (Polymerase-Ketten-Reaktion, PCR) bestätigte Fälle auftraten.
Ende März begannen die Bonner Virologen mit einer Feldstudie. In einer repräsentativen Stichprobe wurden bei 919 Einwohnern aus 405 Haushalten Rachenabstriche auf Virusgene und Blutproben auf Antikörper gegen SARS-CoV-2 untersucht.
Da der Ausbruch den Höhepunkt bereits überschritten hatte, fiel der PCR-Nachweis relativ selten positiv aus. Nur noch 33 Personen (3,59 %) waren aktiv mit dem Virus infiziert. Weitere 22 Teilnehmer (2,39 %) gaben an, in einer früheren Untersuchung positiv auf die Virusgene getestet worden zu sein.
Die Antikörpertests fielen deutlich häufiger positiv aus: Bei 18,5 % wurden IgA-Antikörper und bei 13,6 % IgG-Antikörper nachgewiesen. Unter Berücksichtigung der Testungenauigkeiten kommen Streeck und Mitarbeiter auf eine Infektionsrate von 15,5 % bei einem 95-%-Konfidenzintervall von 12,3 % bis 19,0 %.
Die Infektionsrate könnte in Wirklichkeit noch höher gewesen sein. Auffällig ist, dass der Anteil der Teilnehmer, die vor der Studie positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurden, mit 2,39 % niedriger war als die offiziell gemeldeten Zahlen. Danach waren 3,08 % positiv auf Virusgene getestet.
Streeck vermutet, dass Personen mit bekannter Infektion weniger motiviert waren, an der Studie teilzunehmen. Nach einer Berechnung, die diesen Faktor berücksichtigt, könnten sich 19,98 % (15,84 bis 24,40 %) der Einwohner, also jeder 5., infiziert haben.
Bei einer Prävalenz von 15,5 % hätten sich in Gangelt 1.956 (1.551 bis 2.389) Einwohner infiziert, von denen 7 gestorben sind. Dies ergibt eine Infektionssterblichkeit („infection fatality rate“, IFA) von 0,358 % (0,293 bis 0,451 %).
Legt man für eine Hochrechnung etwa die Zahl von fast 6.700 SARS-CoV-2-assoziierten Todesfällen in Deutschland zugrunde, so ergäbe sich eine geschätzte Gesamtzahl von rund 1,8 Millionen Infizierten in Deutschland. Das wären 2,2 % der Gesamtbevölkerung. Diese Dunkelziffer ist um den Faktor 10 größer als die Gesamtzahl der offiziell gemeldeten Fälle (162.496 am 03. Mai).
Geruchsverlust häufig
Interessant ist ein Blick auf die Symptome der Infizierten: Am häufigsten angegeben wurden Geruchsverlust (Odds Ratio, OR, im Vergleich zu den Nichtinfizierten 19,06) und Geschmacksverlust (OR 17,01) vor den klassischen „Grippesymptomen“ Fieber (OR 4,94), Schweißausbrüche und Schüttelfrost (OR 3,74), Müdigkeit (OR 2,99) und Husten (OR 2,81).
Über Muskel- und Gelenkschmerzen (OR 2,42), Engegefühl in der Brust (OR 2,32), Kopfschmerzen (OR 2,28), Halsschmerzen (OR 1,92) und verstopfte Nase (OR 1,91) wurde ebenfalls häufiger geklagt als in der Kontrollgruppe.
Insgesamt 22,22 % der Infizierten, also mehr als jeder 5., berichteten überhaupt keine Symptome. Dies bestätigt, dass Infizierte, die das Virus ausscheiden und damit andere anstecken können, nicht auf der Basis erkennbarer Krankheitserscheinungen identifiziert werden können.
Nach Einschätzung von Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, sind die Ergebnisse der Heinsberg-Studie „wertvoll und hilfreich“, auch wenn die Zahl der teilnehmenden Kinder unterrepräsentiert und die der über 65-Jährigen überrepräsentiert sei.
Die Ergebnisse spiegelten sehr genau die Ereignisse in der Kleinstadt Gangelt wider, die ein „hotspot“ des Infektionsgeschehens in Deutschland war. Die Übertragbarkeit der Daten sowie Hochrechnungen hinsichtlich der Infektionsrate und der Infektionssterblichkeit auf ganz Deutschland ist laut Krause jedoch nicht gegeben.
Dazu sei die Studie zu klein und die Situation in Gangelt nicht repräsentativ für Deutschland. Der Brauschweiger Epidemiologe weist darauf hin, dass in Gangelt zum Erhebungszeitraum noch keine Infektionen in Seniorenheime aufgetreten waren, wo die Infektionssterblichkeit deutlich höher sei als im Rest der Bevölkerung.
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